Schaudernd vor Kälte, denn vom Wasser stieg ein eisiger, klammer Hauch empor, der binnen Sekunden durch seine Kleider drang.
Aber es war nicht die Kälte, die ihn mit einem unwirklichen Gefühl erfüllte. Im Nachhinein betrachtet kam es ihm fast verwunderlich vor, daß der Kutscher sie überhaupt hierher gefahren hatte. Schon am Tage gehörte dieser Teil der Stadt nicht unbedingt zu denen, die man Besuchern gerne zeigte: die Straße Nummer drei, von der in dem Brief die Rede gewesen war, war das dritte Themsebecken - und jeder, der schon einmal im Londoner Hafen gewesen war, wußte, was das bedeutete. Die Häuser und Lagerschuppen waren hier besonders alt und verfallen. Schon tagsüber wagten sich selbst die für ihre Unerschrockenheit bekannten Londoner Bobbys nur zu zweit (und am liebsten gar nicht) hierher, und es hieß, daß nach Dunkel werden sogar das übliche Gesindel, das man in einer solchen Gegend anzutreffen vermutete, dieses Viertel mied.
Howard konnte nicht beurteilen, ob das stimmte. Er konnte auch nicht beurteilen, ob diese Gegend ihren üblen Ruf zu Recht hatte oder nicht - im Grunde konnte er gar nichts beurteilen, weil er nämlich so gut wie gar nichts sah: alles, was weiter als drei Schritte entfernt lag, war hinter einer Mauer aus undurchdringlichen grauen Schwaden verborgen. War der Nebel schon die ganze Zeit über so dicht gewesen, oder kroch er tatsächlich näher?
Howard lächelte, um sich selbst Mut zu machen, schlug den Jackenkragen hoch und trat mit vorsichtigen kleinen Schritten an den Kai heran. Das Wasser, obwohl nur zwei Yards unter ihnen, war wie alles andere im Nebel verschwunden. Aber er sah immerhin die getroffenen Vorbereitungen, von denen in Ns Brief die Rede gewesen war: die im Nebel zerfasernden Umrisse eines kleinen Bootes. Eine eiserne Leiter, deren Sprossen feucht und glitschig waren, führte zum Wasser hinunter.
Diesmal überließ ihm Rowlf den Vortritt. Aber er schüttelte nur stumm den Kopf, als Howard nach einem der beiden Ruder greifen wollte, nahm im Heck des kleinen Kahnes Platz und tauchte die Blätter ins Wasser. Das Boot drehte sich schwerfällig auf der Stelle und nahm rasch Fahrt auf, als Rowlf mit aller Kraft zu pullen begann.
Mitternacht an der üblichen Stelle der Straße - das hieß nichts anderes als die Mitte des Hafenbeckens, und zwar eine halbe Stunde vor Mitternacht. Howard sah auf die Uhr, stellte fest, daß sie fast auf die Sekunde pünktlich waren, und blickte zum Ufer zurück, während er den Deckel der Taschenuhr mit einem hörbaren Geräusch wieder zuklappen ließ. Es war, als wäre der Nebel ihnen nachgekrochen und läge jetzt wie eine vom Himmel gestürzte Wolke auf dem Wasser. Die Stadt war mit dem Ufer verschwunden. Er sah nichts als graue Unendlichkeit, in der hier und da ein paar verschwommene Lichtflecke schwammen. Ganz weit entfernt hörte er das Geräusch eines Nebelhorns.
Rowlf hörte plötzlich auf zu rudern. Howard sah ihn fragend an, aber Rowlf reagierte nicht auf seinen Blick, sondern schloß im Gegenteil die Augen und legte den Kopf schräg, um zu lauschen.
Nach einigen Augenblicken hörte Howard es auch: ein dunkles, machtvolles Rauschen, das absurderweise aus der Tiefe des Wassers zu kommen schien, als bewege sich etwas Riesiges auf dem Grund des Hafenbeckens auf sie zu. Das Boot begann ganz leicht zu zittern; in einem Takt, der nicht dem der Wellen entsprach.
Howard tauschte einen besorgten Blick mit Rowlf. Sein Diener schwieg noch immer, aber der Ausdruck auf seinem Gesicht war jetzt verbissen. Er hatte Angst.
Howard übrigens auch. Daß er ahnte, was geschehen würde, änderte nichts daran. Es gab Dinge, an die man sich nie gewöhnte. Er lächelte Rowlf aufmunternd zu, richtete sich ein wenig auf und konzentrierte sich auf das schwarz daliegende Wasser.
Nach einer Weile erkannte er einen blassen Lichtschimmer; irgendwo eine viertel oder auch halbe Meile links und unter ihnen. Sehr schnell und beinahe lautlos wurde das Licht heller und kam gleichzeitig näher, bis es zu einem unheimlichen, blaßgrünen Balken aus Helligkeit herangewachsen war, der zehn Yards unter dem kleinen Ruderboot durch das Wasser schnitt.
Und dann ging alles unglaublich schnell.
Von einer Sekunde auf die andere hüllte grünes, gleißendes Licht das kleine Boot und seine Passagiere ein. Das Wasser begann zu brodeln. Weiße Blasen stiegen an die Oberfläche, vereinigten sich zu einem zischenden Teppich aus Schaum, auf dem das winzige Boot hilflos hin und her geworfen wurde, so daß sich Howard und Rowlf mit aller Kraft festklammern mußten, und plötzlich brach etwas Riesiges, Glänzendes aus dem Wasser und bäumte sich brüllend neben dem kleinen Boot auf ...
Im letzten Licht des Tages betrachtet, das bereits von den ersten grauen Streifen der Dämmerung durchdrungen wurde, sah der See aus wie ein gewaltiger, runder Spiegel. Obwohl das rote Licht des Sonnenunterganges den Eindruck von Wärme erweckte, strahlte die Wasserfläche einen Hauch eisiger Kälte aus, und das kaum hörbare Plätschern, mit dem die Wellen gegen das Boot schlugen, klang in Jennifers Ohren wie das Wispern höhnischer, heller Stimmen.
Aber vielleicht kam die Kälte auch aus ihr selbst, und vielicht war das, was sie für ein böses Flüstern hielt, nur das Echo ihrer eigenen Angst.
Sie wußte, daß sie die Nacht nicht überleben würde.
Zum wahrscheinlich hundertsten Male, seit man sie in das kleine, ruderlose Boot gelegt und in die Mitte des Sees hinausgezogen hatte, versuchte sie sich aufzusetzen und zerrte dabei mit aller Kraft an den Fesseln, und zum ebensovielten Male war es vergebens. Die fingerdicken Hanfstricke waren fachkundig angelegt; von Männern, die wußten, was sie taten. Sie waren nicht einmal sehr fest, aber Jennifers Hand- und Fußgelenke waren trotzdem blutig gescheuert und schmerzten. Zu oft hatte sie versucht, sich von ihren Fesseln zu befreien.
Es war ihr nicht einmal gelungen, sich aufzusetzen.
Durch ihr verzweifeltes Hin- und Herwerfen in Bewegung gesetzt, begann das Boot auf den Wellen zu schaukeln. Jennifer erstarrte vor Schreck und hielt für einen Moment sogar den Atem an. Das Boot schaukelte noch einen Moment weiter. Jennifer wußte sehr wohl, daß es noch nicht an der Zeit war, nicht, solange die Sonne nicht vollends versunken und der Mond wie eine silberne Scheibe am Himmel aufgegangen war, aber es war nur ein Teil von ihr, der das wußte: der logische, überlegende Teil. Die andere Jennifer, das Mädchen, das wußte, daß es sterben würde, und vor Angst halb wahnsinnig war, hörte Geräusche unter dem Plätschern der Wellen, die es nicht gab: ein dumpfes Brausen und Rauschen, als stiege ein kolossaler finsterer Körper aus den eisigen Tiefen des Lochs empor, ein schweres mühsames Atmen, das Plätschern, mit dem gewaltige flossenbewehrte Arme die Fluten teilten. War da nicht ein Reiben und Schaben unter dem Boot, ein Laut, der sie an das Kratzen horniger Fingernägel erinnerte? Klang der Rhythmus der Wellen nicht plötzlich anders, als wäre ein großer Körper irgendwo in der Nähe des Bootes aufgetaucht und störe das sanfte Hin und Her des Wassers?
Mit aller Macht kämpfte das schwarzhaarige Mädchen die aufsteigende Panik nieder, schloß die Augen und preßte die Lider so fest aufeinander, daß es weh tat und farbige Kreise vor ihren Augen erschienen. Ihr Herz schlug noch immer wie rasend, aber zumindest im Moment hatte sie sich noch weit genug in der Gewalt, die Panik ein letztes Mal zurückzudrängen.
Als sie die Augen öffnete, war der See wieder normal. Die Geräusche, die sie umgaben, waren die des Wassers, mehr nicht, und das einzige, vor dem sie Angst haben mußte, war ihre eigene Furcht.
Aber sie wußte, daß das nicht so bleiben würde. Der Anteil von Grau in der Farbe des Himmels war größer geworden, und hinter den Wolken war eine verwaschene helle Scheibe aufgetaucht.