Dann machte er einen Schritt, und es war diese Bewegung, die die Illusion zerplatzen und mich erkennen ließ, wem ich wirklich gegenüberstand.
Es waren Menschen. Menschen in wuchtigen, aus Eisen und zähem schwarzem Leder gefertigten Tauchmonturen. Jetzt, als sie aus dem Wasser heraus waren, hatten ihre Bewegungen alle Eleganz verloren und wirkten eher plump. Ich dachte schaudernd daran, wie schwer ein solcher Anzug an Land sein mußte.
Der vorderste der drei gepanzerten Riesen trat vor, legte umständlich seine Harpune zu Boden und hob die rechte Hand zum Kopf. Ein leises Quietschen erscholl, als er die wasserdichte Glasplatte löste, die seinen Helm schloß.
Dahinter kam ein schmales, von einem wild wuchernden Vollbart bedecktes Gesicht zum Vorschein. Ein Paar eisgrauer, wacher Augen musterte die Männer, blieb einen Moment an Spears' Gesicht haften und richtete sich dann auf mich. Es war sonderbar, aber ich begann beinahe sofort, mich unter dem Blick dieser Augen unwohl zu fühlen.
Dann begann der Mann zu sprechen. Seine Stimme klang verzerrt und hohl unter dem wuchtigen eisernen Helm hervor, und trotzdem erschien sie mir in diesem Moment unendlich wohltönend, denn es war wenigstens eine menschliche Stimme.
»Nun, Monsieur, mir scheint, wir sind gerade noch zum rechten Zeitpunkt gekommen. Hatten Sie Verluste?«
Spears, an den die Frage gerichtet war, fuhr sichtlich zusammen. »Einen... einen Mann«, antwortete er stockend. »Vielleicht mehr. Aber wenn Sie eine Minute später erschienen wären ...«
Der Mann in der Tauchermontur winkte ab und kam mit schwerfällig-taumelnden Bewegungen näher. »Meine Mannschaft wird sich um diese Mißgeburten kümmern, mein Wort darauf, Monsieur«, sagte er. »Trotzdem wäre es wohl angeraten, wenn Sie und Ihre Männer diesen ungastlichen Ort schnellstmöglich verlassen würden. Ich habe ein Boot, wenige hundert Meter flußab. Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie uns begleiten würden. Überdies gibt es die eine oder andere Information, die ich Ihnen zukommen lassen und die auf Ihr Interesse stoßen könnte.«
Spears starrte das Gesicht hinter der Tauchermaske verwirrt an. Wahrscheinlich war er noch nie auf jemanden gestoßen, der sich noch komplizierter und umständlicher ausdrücken konnte als er. Aber der Fremde gab ihm keine Zeit, seiner Verwirrung Herr zu werden, sondern fuhr, mit einem fragenden Blick in meine Richtung, fort:
»Monsieur Craven, nehme ich an?«
Instinktiv nickte ich. »Sie... kennen mich?«
Ein flüchtiges Lächeln huschte über die ausgemergelten Züge hinter der Tauchermaske und erlosch wieder. »Wir hatten das Vergnügen leider noch nicht persönlich, mein lieber junger Freund, aber ich darf mich rühmen, schon eine Menge über Sie und Ihre tolldreisten Streiche gehört zu haben.« Er lächelte noch einmal, kam näher und streckte mir die dreifingrige Metallklaue seines Anzuges wie zur Begrüßung hin. Ich widerstand im letzten Moment der Versuchung, sie zu schütteln. Wahrscheinlich hätte er mir glatt die Hand abgerissen.
»Ich soll Ihnen Grüße ausrichten, Monsieur«, fuhr der Fremde fort. »Von einem gemeinsamen Freund. Aber vielleicht bereden wir das später, in meiner Kabine und bei einem guten Glas Portwein?«
»Gern«, stotterte ich, noch viel zu perplex, um etwas anderes sagen zu können. »Aber von welchem gemeinsamen Freund sprechen Sie? Und wer sind Sie überhaupt?«
»Mein Name ist Nemo«, sagte der Fremde. »Kapitän Nemo.«
»Nemo?« Ich starrte ihn an. »Sie sind...«
»Warum unterhalten wir uns nicht später darüber!« unterbrach mich Nemo, und irgend etwas war in seiner Stimme, was mich aufhorchen ließ. Sie klang... ja, alarmiert. Alarmiert und zugleich besorgt. Und ich hatte das sichere Gefühl, daß es nicht allein die Anwesenheit der Shoggoten-Monster war, die ihn ängstigte. Fast gegen meinen Willen nickte ich.
»Gehen wir.« Vier Stunden später verließen wir das unterirdische Labyrinth wieder. Der Mann in der Tauchermontur deutete nach vorn, dorthin, wo sich das Wasser in einem gewaltigen steinernen Becken sammelte, einen künstlichen Katarakt überwindend und durch schräg gegen die Strömung geneigte eiserne Gitterkonstruktionen fließend.
Es mußte auf Mitternacht zugehen, denn der Mond, der dann und wann hinter den tiefhängenden Regenwolken hervorlugte, stand nahezu im Zenit, und die Stadt lag wie eine dunkle, formlose Masse hinter uns. Ein geradezu atemberaubender Gestank stieg von der Oberfläche des Sammelbeckens auf und verpestete den kühlen Salzwasserhauch, der vom Meer heraufwehte.
Trotzdem erschien mir die übelriechende Luft wie ein kühler Frühlingshauch nach den mehr als vier Stunden, die ich unter der Erde und bis zu den Knien in Abwässern watend zugebracht hatte. Mehr als einmal während dieser Zeit hatte ich ernsthaft zu zweifeln begonnen, ob wir das Tageslicht überhaupt noch einmal wiedersehen würden. Selbst das schlammverkrustete Becken unter uns kam mir im Moment wunderschön vor, war es doch wenigstens ein Teil der Welt, die ich kannte. Ich fühlte mich schmutzig wie niemals zuvor in meinem Leben; und ich war es auch. Alles an mir schien irgendwie zu kleben, und auf meiner Zunge lag ein Geschmack, als hätte ich versehentlich eine Kuh am falschen Ende geküßt. So absurd es war, sehnte ich mich nach vier Stunden, die ich größtenteils im Wasser watend verbracht hatte, nach nichts mehr als nach einer Badewanne voller Wasser. Voll sauberem Wasser allerdings. Etwas zwickte mich in den Ellenbogen, und die Berührung erinnerte mich daran, daß wir noch lange nicht außer Gefahr waren und zwischen mir und der Badewanne noch ein ganzes Becken voller Schlamm und vielleicht noch ein paar Dinge mehr lagen, an die ich lieber nicht denken wollte.
Ich sah auf, begegnete Nemos ernstem, beinahe besorgt wirkendem Blick und sah in die Richtung, in die die dreifingrige Eisenklaue seines sonderbaren Anzuges deutete. Auf der anderen Seite des Sammelbeckens, dicht hinter der Stelle, an der das Wasser ein letztes, gemauertes Wehr durchfloß und sich gurgelnd und schäumend ins offene Meer ergoß, bewegten sich Schatten. Meine Augen hatten Mühe, mit dem silbergrauen Zwielicht der Nacht zurechtzukommen, aber ich mußte die Schatten auch nicht wirklich erkennen, um zu wissen, wer dort drüben auf uns wartete. Die Bewegungen der Männer wirkten plump und ungelenk, und dann und wann brach sich ein verirrter Lichtstrahl auf ihren Gestalten und ließ sie wie schwarzpolierten Stahl aufblitzen.
»Ihre Männer?« flüsterte ich.
Nemo nickte; jedenfalls nahm ich an, daß das kurze Beben seiner schwerfälligen Tiefseemontur ein Nicken sein sollte. »Oui«, sagte er. »Ein wenig zu spät, aber besser spät als gar nicht.« Er seufzte und blickte zum Mond hinauf. Ich war mir nicht sicher, denn sein Gesicht war hinter der schmalen Öffnung des Taucherhelmes nur undeutlich zu sehen, aber ich glaubte, einen raschen Ausdruck von Sorge über seine Züge huschen zu sehen.
»Was haben Sie?« fragte ich.
Nemo fuhr zusammen, sah mich einen ganz kurzen Moment lang fast schuldbewußt an und rettete sich in ein Lächeln.
»Nichts«, log er. »Kommen Sie. Das Boot wartet.«
Hinter uns wurde die Nacht lebendig, als nach und nach auch die anderen Mitglieder unserer verunglückten Expedition aus dem Kanal kamen. Der kleine Trupp bot einen genauso seltsamen wie bemitleidenswerten Anblick. Spears' Männer - mit ihm selbst an der Spitze - sahen ungefähr so aus, wie ich mich fühlte, nämlich gräßlich. Das Dutzend Marinesoldaten wankte mehr ins Freie, als daß es ging. Kaum einer von ihnen war ohne Blessuren davongekommen, und alle waren sie über und über mit Schmutz und glitzerndem Schlamm bedeckt. Und Nemos Männer boten keinen besseren Anblick. Ihre Unterwasserpanzer waren über und über mit Schlamm und fauligem Tang bedeckt, und die Last der Kleidungsstücke, für ein anderes Element als die Luft geschaffen, ließ ihre Träger gebeugt und schleppend gehen wie uralte Männer.