Nemo seufzte. »Das Wort Gäste wäre mir lieber, Kapitän, aber wenn Sie Wert darauf legen - bitte.«
»Aber warum?« fragte Spears verwirrt. »Wir kämpfen auf derselben Seite, Nemo. Sie und ich...«
»Verdammt noch mal, Spears, halten Sie endlich den Mund!« unterbrach ich ihn ärgerlich. »Begreifen Sie immer noch nicht, wer dieser Mann ist?«
Spears starrte erst mich, dann Nemo an, öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen, brachte aber nur ein halbersticktes Krächzen hervor. Plötzlich wurden seine Augen rund vor Schrecken.
»Nemo«, murmelte er. »Sie ... Sie sind Kapitän Nemo? Der Nemo?«
Statt einer direkten Antwort senkte Nemo seine Harpune und trat ein paar Schritte auf Spears zu. Sein ausgestreckter Arm deutete nach Osten, auf das Meer hinaus.
Ein Stück vor der Küste, vielleicht eine halbe Seemeile entfernt, begann das Wasser zu schäumen. Zuerst war es nur ein leichtes Kräuseln der Oberfläche, als spiele der Wind mit den Wellen, dann wurden die Blasen größer und mächtiger, und mit einem Male übertönte ein gewaltiges Rauschen den monotonen Rhythmus der Brandung. Immer stärker und stärker schäumte das Meer, und plötzlich, als wäre an seinem Grund ein unterseeischer Vulkan ausgebrochen, schoß eine gewaltige Fontäne aus Wasser und weißem Schaum in die Luft, erhob sich bis auf dreißig, vierzig Yards Höhe und fiel zurück, als blase ein riesiger Wal Wasser ab.
Dann erschien der Gigant.
Trotz seiner ungeheuerlichen Größe hatte sein Auftauchen etwas fast schwereloses. Majestätisch wie ein Wal, aber viermal so groß, durchbrach er die Wasseroberfläche, sank mit einem gewaltigen Rauschen und Krachen zurück und kam schaukelnd zur Ruhe; ein Riese wie ein finsterer Meeresgott, aber aus schwarzem Stahl gefertigt. Eine doppelte Reihe winziger, gelb erleuchteter Bullaugen an seiner Flanke zauberte hüpfende Lichtflecke auf das Wasser, und plötzlich strahlte an seinem Bug ein helles, gleißendes Licht auf, tastete wie ein suchender Finger über das Meer und erlosch wieder.
Aber so kurz der Scheinwerferstrahl auch nur geleuchtet hatte, sein Licht hatte ausgereicht, mir den Namenszug zu zeigen, der in geschwungenen goldenen Lettern unter dem zwanzig Yards langen Rammsporn am Bug des Giganten prangte.
NAUTILUS
Der Raum war nicht sehr viel größer als eine Gefängniszelle, zwei Schritte in der Breite und kaum doppelt so lang, dazu so niedrig, daß ich mich nicht einmal vollends aufrichten konnte, wollte ich nicht mit dem Kopf gegen die sanft gekrümmte Decke stoßen.
Aber er war sehr viel behaglicher eingerichtet. Die Wände, aus härtestem Stahl geschmiedet, lugten nur hier und da hinter kostbaren Vorhängen und Gobelins hervor, und auf dem Boden lag ein wolkenweicher Teppich. Ein buntbestickter Diwan nahm fast die Hälfte des vorhandenen Platzes ein, und vor der gegenüberliegenden Wand, gleich neben einer niedrigen, halbrunden Tür, war ein niedriger, kunstvoll gedrechselter Tisch am Boden verschraubt, auf dem noch die Reste des üppigen Mahles standen, das mir einer von Nemos Männern vor Stundenfrist gebracht hatte; dazu eine Flasche des köstlichsten Champagners, der mir jemals untergekommen war.
Auf einem Wandbord daneben standen eine kostbare, goldgeschnittene Bibel und zwei kleine metallene Kistchen, von denen eine eine Anzahl teurer Havanazigarren und die andere drei Lagen likörgefüllter Pralines enthielt. Mein Gastgeber schien großen Wert darauf zu legen, für mein körperliches und seelisches Wohl zu sorgen.
Was nichts daran änderte, daß die Kammer ein Gefängnis war. Ein sehr komfortables Gefängnis vielleicht, aber trotzdem nicht mehr.
Es gab kein Fenster, und die Tür hatte auf der Innenseite keinen Griff, sondern nur einen runden Knauf, an dem ich ziehen konnte, bis ich schwarz wurde. Es war ein Gefängnis. Mißmutig wälzte ich mich auf dem Diwan von einer Seite auf die andere, knuffte das bestickte Seidenkissen zu einem Ball zusammen und versuchte vergeblich, das Gefühl der Übelkeit zu ignorieren, das in gleichmäßigen Wellen aus meinem Magen emporstieg. Mir war schlecht wie selten zuvor in meinem Leben.
Aber die Übelkeit, die mich quälte, kam weder von dem zu reichlichen Essen noch von der Flasche Champagner, die ich fast zur Gänze geleert hatte, sondern resultierte einzig aus dem beständigen Stampfen und Schaukeln, das begonnen hatte, als ich diesen Alptraum von Schiff betrat, und seither - von einer einzigen, kurzen Unterbrechung abgesehen - nicht mehr aufgehört hatte.
Ich war seekrank.
Ich habe Schiffe nie gemocht, sondern ihnen immer ein natürliches Mißtrauen entgegengebracht; seit ich denken konnte, ist mir stets alles, was sich nicht auf festem Boden oder wenigstens Rädern oder Schienen bewegt, irgendwie suspekt gewesen.
Aber seit ich an Bord der NAUTILUS war, hatte ich angefangen, sie zu hassen.
Dabei war das beständige Schaukeln und Wiegen des Bodens nicht einmal sehr schlimm. Immerhin befanden wir uns gute zehn Faden unter der Oberfläche des Meeres, so daß das Schiff vom Wellengang weitgehend unberührt blieb, aber die Strömung war hier, nahe der schottischen Küste, selbst unter Was ser so stark, daß sich das Boot beständig mit der Kraft seiner Maschinen gegen den Druck des Wassers stemmen mußte.
Wenigstens war das die Erklärung, die ich mir selbst zurechtgebastelt hatte, in den Stunden, die ich wach auf dem Diwan gelegen, die Decke angestarrt und versuchte hatte, der Übelkeit in meinen Eingeweiden Herr zu werden.
Ich wußte nicht einmal, wie lange ich mich an Bord dieses phantastischen Schiffes befand. Trotz allem war ich eingeschlafen, kaum daß mich Nemo unter Deck gebracht und mir meine Kabine gezeigt hatte, und der Schwere meiner Glieder nach zu urteilen, die ich nach dem Erwachen verspürte, mußte es ein sehr langer Schlaf gewesen sein.
Seitdem lag ich hier, starrte die Decke mit der runden, elektrischen Lampe darunter an und wartete; worauf, wußte ich selbst nicht, Kapitän Nemo hatte auf keine meiner Fragen - und es waren ihrer eine Menge gewesen! - wirklich geantwortet, sondern sich in geheimnisvollen Andeutungen ergangen, nach denen ich mich verwirrter fühlte als vorher. Ein metallisches Schaben von der Tür her ließ mich aus meinen düsteren Gedanken auffahren. Ich blinzelte, setzte mich mit einem Ruck auf den Diwan auf und sank gleich wieder zur Seite, als mein Magen die unvorsichtige Bewegung mit einem neuerlichen Schub saurer Galle in meinen Mund quittierte. Das wuchtige Schott glitt mit einem hörbaren Quietschen zur Seite, und ein hochgewachsener Mann im blau-weiß gestreiften Bordhemd des Schiffes und in schwarzen Hosen trat gebückt durch die Öffnung: Es war derselbe Mann, der mir vor Stundenfrist das Essen gebracht hatte.
Schweigend wartete er, bis ich mich - weitaus langsamer und vorsichtiger als beim erstenmal - erhoben hatte, trat zur Seite und machte eine einladende Handbewegung auf den Gang hinaus. Ich trat an ihm vorbei und rammte mir prompt den chädel an der niedrigen Kante des Schotts an. Die Mundwinkel des Matrosen zuckten verdächtig, aber er verbiß sich mit Macht das Grinsen, das mein Mißgeschick ihm aufdrängen wollte, als er meinem finsteren Blick begegnete, sondern beeilte sich, sich an mir yorbeizuschieben und gebückt vorauszugehen. Trotz meiner Übelkeit, die jetzt, als ich auf dem schwanken den Boden auch noch gehen mußte, noch weiter zunahm, erweckte der Anblick sofort meine Neugier. Der Gang war so niedrig, daß auch ein sehr viel kleinerer Mann als ich schwerlich hätte aufrecht gehen können. Alles an Bord dieses phantastischen Schiffes war irgendwie eng und klein. Seine Wände, die leicht einwärts gebogen waren, wie um der Krümmung des Rumpfes zu folgen, waren mit schweren, goldbemalten Tapeten und Stoffen verziert, nur hier und da lugte ein sonderbares technisches Gerät hervor, aber auch dieses verkleidet und kaschiert, so gut es ging. Wie in meiner Kabine verbreiteten wundersame elektrische Lampen unter der Decke mildes, nahezu schattenloses Licht, und wie dort lagen auf dem Boden weiche Teppiche, gegen die selbst die Bodenbeläge meines gewiß nicht ärmlichen Hauses in London schäbig ausgesehen hätten. Wäre das rhythmische Pochen der schweren Maschinen nicht gewesen, die tief unter uns im Leib des Schiffes wie gewaltige stählerne Herzen schlugen, hätte ich eher angenommen, mich in einem feudalen Landhaus zu befinden, nicht in einem Schiff, das zehn Faden unter der Wasseroberfläche die Meere durchkreuzte.