Der Gang schien wie eine gewaltige stählerne Aorta durch die gesamte Länge des Schiffsrumpfes zu gehen, denn wir legten eine Distanz von gut fünfzig Schritten zurück, ehe der Matrose vor einem weiteren halbrunden Schott stehenblieb und mit einer auffordernden Handbewegung zur Seite wich. Die zollstarke Panzertür glitt nahezu lautlos nach oben, als ich darauf zutrat, und gab den Blick auf eine eng gewundene, metallene Treppe frei, die dahinter gleichzeitig nach unten und in die Höhe führte. Mein schweigsamer Führer lächelte auffordernd, trat zurück und wies mit einer Handbewegung nach oben, wie um mir mit Gesten zu verstehen zu geben, daß ich weitergehen sollte, ohne auf ihn zu warten. Wahrscheinlich, überlegte ich, war er des Englischen nicht mächtig und versuchte sich auf diese Weise verständlich zu machen.
Die Sicherheitstür fiel hinter mir zu, kaum daß ich den Fuß auf die erste Stufe der Eisentreppe gesetzt hatte. Instinktiv blieb ich stehen, sah kurz nach oben und beugte mich dann über das schmale Geländer, um in die Tiefe zu blicken. Viel gab es allerdings nicht zu sehen. Die Treppe endete nach drei, vier weiteren, engen Windungen in einem winzigen Raum, dessen Wände von vier niedrigen gepanzerten Türen durchbrochen waren, ähnlich der, durch die ich selbst gerade gekommen war. Der Boden war dort unten nackt, und auch an den Wänden sah das unverkleidete Eisen des Schiffsrumpfes hervor, übersät mit einer Unzahl sinnverwirrenden technischen Gerätes. Das rhythmische Pochen des stählernen Pulsschlages dieses Giganten der Meere schien dort unten lauter zu sein, und als ich mich darauf konzentrierte, vermeinte ich ein ganz sanftes Vibrieren unter meinen Füßen zu spüren. Dort unten mußten die geheimnisvollen Maschinen liegen, die die NAUTILUS antrieben. Ich ging weiter. Ganz sicher wartete man oben auf mich, und solange ich nicht wirklich wußte, auf welcher Seite der Herr dieses geheimnisvollen Schiffes stand, hatte es wenig Sinn, sein Mißtrauen zu wecken.
Das Messer fühlte sich kalt in ihrer Hand an, kalt und glatt wie Eis und sonderbar schwer, und obwohl die schmale, auf beiden Seiten geschliffene Klinge noch immer sorgsam unter einem Streifen dunklen Stoffes verborgen war, damit sich kein Lichtstrahl auf dem Stahl brach und sie etwa im letzten Moment verriet, glaubte sie den Metallgeschmack auf der Zunge zu fühlen. Sie wußte, daß sie sterben würde. Die Klinge unter ihrer Schürze, um die sich ihre rechte Hand mit fast verzweifelter Kraft krallte und die für einen anderen bestimmt war, würde auch sie töten. Aber das war ihr egal. Sie war ohnehin schon tot. Sie war vor drei Tagen gestorben, innerlich, und daß sie noch weiterlebte und atmete und sprach und dachte, war eigentlich nur noch ein bloßer Reflex, ein blindes Weiterfunktionieren ihres Körpers ohne Sinn und Zweck. Sie war gestorben, als sie das kleine Zimmer unter dem Dach ihres Hauses betreten und Jennifers Bett leer vorgefunden hatte. Als sie begriffen hatte, was das unbenutzte weiße Laken bedeutete. Ihr Leben hatte jeden Sinn verloren, im selben Augenblick, in dem sie ans Fenster getreten und den Vollmond wie ein höhnisch blinzelndes Auge am Himmel stehen gesehen hatte.
Seitdem war sie tot, aber niemand hatte es bemerkt; niemand aus der Stadt, keiner ihrer Nachbarn und Freunde, keiner von ihnen, nicht einmal ihr eigener Mann, den sie seit diesem Moment mit der gleichen Inbrunst haßte, wie sie ihn all die Jahre zuvor geliebt hatte. Etwas in ihr war gestorben, und wenn sie jetzt noch weiterlebte, dann nur zu dem einzigen Zweck, Rache zu üben. Sie würde McGillycaddy töten. Erst ihn, dann James, den Mann - selbst in Gedanken weigerte sie sich jetzt, ihn weiter als ihren Mann zu bezeichnen, geschweige denn als Jennifers Vater -, den Mann, der sein eigenes Fleisch und Blut verraten hatte, um es einer blasphemischen Gottheit zu opfern. Und dann so viele von ihnen, wie sie erwischen konnte, ehe sie sie überwältigten und töteten. Vielleicht - auch dessen war sie sich vollkommen im klaren - würden sie sie auch nicht töten, sondern etwas Schlimmeres mit ihr tun, aber selbst das war ihr egal. Es gab nichts mehr von Wichtigkeit. Nichts außer dem Stück rasiermesserscharfem beißendem Stahl in ihrer Hand.
Das Haus wirkte sonderbar kalt, als sie Jennifers Zimmer verließ und auf den schmalen, fensterlosen Korridor hinaustrat. Unten, in der Stube, hörte sie James mit den anderen reden, aber sie achtete nicht auf die Worte, denn auch sie hatten keine Bedeutung mehr, sondern ging mit ruhigen Schritten ins Schlafzimmer hinüber und betrachtete sich noch einmal kritisch in dem großen Spiegel, der neben dem Bett aufgestellt war.
Es war ein kostbarer Spiegel, in goldbemalte Holzschnitzereien gefaßt und aus dem allerfeinsten Kristallglas geschliffen.
Wie jedes Teil hier im Haus hatte sie ihn mit großer Sorgfalt und Liebe ausgewählt, und wie alles in diesem Haus war er etwas, um das sie die meisten anderen Frauen beneidet hätten. Bis vor drei Tagen war er ihr ganzer Stolz gewesen.
Jetzt war das alles unwichtig geworden.
Kritisch musterte Several Borden ihre Erscheinung. Nein, es fiel nicht auf, daß sie die rechte Hand unter der Schürze trug. Sie hatte ihr bestes Kleid angezogen, wie immer, wenn sie zu einer Versammlung gingen, dazu eine Schürze aus Brüsseler Stickerei, über der der Schal wie ein modisches Accessoire wirkte; nicht wie das Versteck, in dem sie den tödlichen Dolch trug. Niemand würde etwas merken.
Und auch ihr Gesicht wirkte gefaßt und glatt und schön wie immer. Für ihre vierzig Jahre war sie noch immer eine sehr schöne Frau. Es war kein Wunder gewesen, daß sie einen der reichsten Männer des Ortes hatte heiraten können. Es war ihr auch ganz selbstverständlich vorgekommen, ein Leben in einem - wenn auch bescheidenen - Luxus und frei aller Sorgen führen zu können. Bis jetzt. Bis zu jenem schrecklichen Moment vor drei Tagen, in dem sie begriffen hatte, wie furchtbar hoch der Preis war, den sie letztendlich dafür zahlen mußte.
Langsam wandte sie sich um, schloß die Schlafzimmertür hinter sich und wandte sich zur Treppe. Sie hörte das Geräusch der Tür, kurz bevor sie die Treppe hinuntergekommen war, und als sie die Stube betrat, sah sie gerade noch das geschauspielerte Lächeln auf James' Zügen erlöschen, mit dem er den letzten Besucher verabschiedet hatte.
»Several, Liebling«, begrüßte sie ihr Mann. »Du bist schon fertig. Wie schön.« Er kam auf sie zu, schloß sie kurz und heftig in die Arme und küßte sie auf die Wange. Several hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Aber ihr Gesicht blieb ausdruckslos wie Stein.
»Ich bin bereit«, sagte sie ruhig. »Und ich glaube, es wird auch Zeit. Die Versammlung beginnt bald.«
James nickte, eilte zum Kamin und klopfte seine Pfeife über den Flammen aus. »Ich weiß«, sagte er. »Aber ich komme nicht mit.«
Several erschrak, so sehr, daß sie nur mit Mühe den geschauspielert-gleichmütigen Ausdruck auf ihren Zügen halten konnte. »Du kommst nicht mit?« wiederholte sie. »Du weißt, daß McGillycaddy...«
»Gesagt hat, daß alle kommen müssen, ich weiß«, unterbrach James sie. »Aber er weiß Bescheid. Es reicht aus, wenn du gehst und mich vertrittst. Und ich komme ja nach.« Er lächelte aufmunternd, eilte geschäftig durch das Zimmer und stellte den rechten Fuß auf die Tischkante, um seinen Schuhriemen zu binden.
»Wohin... gehst du?« fragte Several stockend. Ihre Gedanken überschlugen sich fast. Er mußte mitgehen. Nach McGillycaddy selbst war er der zweite, der bezahlen mußte. Er vor allem. »Ich... ich möchte nicht allein gehen«, fügte sie hinzu.