James sah auf, lächelte und beugte sich dann wieder über seinen Schuh. »Ich komme so rasch nach, wie ich kann«, versprach er. »Und...« Er stockte wieder, als der Schuhriemen unter seinen Fingern zerriß, runzelte ärgerlich die Stirn und versuchte, die abgerissenen Enden zusammenzuknoten.
»Warum eigentlich nicht«, sagte er plötzlich. »Es sollte eigentlich eine Überraschung sein, aber was soll's? Ich fahre zur Bahnlinie hinunter, um Jennifer abzuholen.«
»Jennifer?« Several erschrak, als sie den fast hysterischen Ton in ihrer eigenen Stimme vernahm. Aber James war so sehr mit seinem Schuhriemen beschäftigt, daß er nichts zu bemerken schien.
»Sie... Sie kommt zurück?« sagte sie stockend. Ihr Herz schien auszusetzen. Dann begriff sie, und ein Gefühl eisiger Kälte begann sich in ihrem Inneren auszubreiten.
James nickte. »Ja. Ich habe dir doch gesagt, daß sie in ein paar Tagen wieder hier ist. Du hast dich umsonst gesorgt, Liebling. Schließlich ist Aberdeen nicht aus der Welt, und ein Mäd en von neunzehn Jahren kann ganz gut einmal für drei Tage allein bleiben.«
Lautlos trat Several hinter ihren Mann. Er mußte ihre Annäherung bemerken, aber natürlich dachte er sich nichts dabei.
Ihre Augen füllten sich mit heißen Tränen. Für wie dumm hielt er sie? Wie sehr mußte er sie verachten, wenn er glaubte, sie selbst jetzt noch belügen zu können?
»Sie... Sie kommt zurück?« fragte sie noch einmal.
James nickte, ohne von seinem Schuh aufzusehen, riß ein weiteres Stück des mürbe gewordenen Schnürsenkels ab und fluchte leise. »Warum sollte sie nicht kommen?« fragte er. »In ein paar Stunden seid ihr wieder zusammen, du wirst sehen.« Several begann zu weinen, lautlos und ohne daß sich in ihrem Gesicht auch nur ein Muskel rührte. Sie hatte ihr Sterben gespürt, vor drei Tagen.
»Ja«, sagte sie leise. »Bald sind wir wieder zusammen, James. Wir alle.«
Vielleicht ahnte er jetzt, was der sonderbare Ton in ihrer Stimme zu bedeuten hatte, denn er hielt plötzlich in seinem Tun inne und richtete sich auf. Aber wenn, dann kam diese Erkenntnis zu spät.
Several stieß ihm den Dolch mit solcher Wucht in den Rücken, daß die Klinge abbrach.
Ich war schon fast daran gewöhnt, daß die Tür am oberen Ende der Treppe wie von Geisterhand aufschwang, kaum daß ich mich ihr näherte. Dahinter lag ein Gang, der etwas größer und heller erleuchtet war als der untere und womöglich noch verschwenderischer eingerichtet. Ich konnte noch immer nicht aufrecht gehen, ohne mir den Kopf an der Decke zu stoßen, aber trotzdem hatte ich das Gefühl, plötzlich freier atmen zu können. Vielleicht war es auch nur das Wissen, mich ein paar Yards näher an der Wasseroberfläche zu befinden. Es war nicht gerade ein erhebender Gedanke, zehn Faden tief unter dem Meer zu sein, eingeschlossen in einen schwimmenden Sarg, der allen Naturgesetzen und jeglicher Logik zu spotten schien.
Seit ich erwacht war, nagte eine unbestimmte Furcht an meinen Gedanken. Der eine, streng logisch funktionierende Teil meines Bewußtseins sagte mir, daß die NAUTILUS nichts als das Erzeugnis einer fortgeschrittenen Technik war, die ich nicht verstand, die aber sichtlich funktionierte, denn wenn nicht, wäre ich wohl kaum in der Lage gewesen, diesen Gedanken zu denken. Aber es gab noch einen anderen Teil in mir, dem es reichlich egal war, was Logik und gesunder Menschenverstand sagten; einen Teil, der nicht von der fürchterlichen Vision abzubringen war, das Schiff jeden Moment wie einen Stein absinken und zehntausend Klafter tief auf dem Grunde des Meeres zerschellen zu fühlen.
Solche und ähnliche Gedanken schössen mir durch den Kopf, während ich durch den gewölbten Gang schritt.
Dann hörte ich die Musik.
Zuerst war es nicht viel mehr als ein Summen, ein Ton, der fast im Grollen der Schiffsmaschinen unterging, aber er schwoll rasch an und übertönte bald den Motorenlärm, wechselte, schwoll an und sank wieder herab und schwoll wieder an. Dann wußte ich, was es war.
Orgelmusik.
Vor Überraschung blieb ich stehen.
Was ich hörte, war eine Kantate von Johann Sebastian Bach, frei und mit erstaunlichem musikalischem Gespür intoniert auf einer aufs Allerfeinste gestimmten Kirchenorgel. Zehn Faden unter dem Meer! Verwirrt ging ich weiter und blieb vor einer weiteren Tür ste hen, die auf die schon bekannte Weise in der Decke verschwand, kaum daß ich bis auf Armeslänge herangekommen war - und blieb abermals stehen, als wäre ich gegen ein unsichtbares Hindernis geprallt. Nach allem, was ich in den letzten Stunden erlebt und gesehen hatte, hatte ich geglaubt, gegen jede Überraschung gefeit zu sein. Aber ich sah mich getäuscht.
Hinter der Tür lag ein schmaler, von einem kunstvoll geschmiedeten eisernen Gitter begrenzter Balkon, hinter dem sich ein weitläufiger, äußerst geschmackvoll eingerichteter Salon erstreckte. Seine Größe mochte gute zehn auf zwanzig Schritte betragen, und die Decke, von der ein gewaltiger, elektrisch betriebener Lüster hing, wölbte sich gute drei Yards über mir.
An der linken Seite, gleich neben dem Eingang, stand eine großzügig bestückte Bar, daneben in gemütlicher Unordnung eine Chaiselongue und zwei kleine, behaglich aussehende Sessel. Es gab Bücherregale und große hölzerne Gefäße voller wuchernder tropischer Pflanzen, und an den Wänden hingen kunstvoll gerahmte Gemälde. Ein Salon wie dieser hätte ebensogut in jedes vornehme Londoner Stadthaus gepaßt.
Beinahe, heißt das. Es gab zwei Dinge, die den auf den ersten Blick so normalen Eindruck störten. Das eine war eine gewaltige Orgel, die die gesamte gegenüberliegende Wand einnahm und aus der die Musik ertönte, die ich vernommen hatte, gespielt von einem schmalschultrigen, dunkelhaarigen Mann, der mit dem Rücken zur Tür saß und so in sein Spiel versunken schien, daß er mein Eintreten nicht einmal bemerkte.
Das andere war das Fenster.
Oder das, was ich im ersten Moment für ein Fenster gehalten hatte.
Es war rund wie ein Bullauge, aber mehr als mannshoch und aus gut fünf Inches starkem, leicht nach außen gewölbtem Glas gefertigt. Dahinter lag die Unendlichkeit.
Der Anblick war im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend, denn für Augenblicke vergaß ich sogar, Luft zu holen, so sehr schlug mich das phantastische Bild in seinen Bann.
Die NAUTILUS bewegte sich tief unter der Wasseroberfläche, genau auf der Trennlinie zwischen Licht und ewiger Nacht, so daß es aussah, als glitte sie lautlos auf der Oberfläche eines zweiten, tintenschwarzes Meeres entlang, das sich unter der des bekannten Ozeans verbarg. Ein unwirkliches, blausilbernes Licht drang durch den flackernden, immer wieder in blitzende weiße Splitter zerbrechenden Himmel, den das Meer dreißig oder vierzig Yards über uns bildete, und in einiger Entfernung konnte ich einen gewaltigen Schwärm silbern glitzernder Fische erkennen, der das Unterseeboot wie im Spiel begleitete.
»Gefällt Ihnen, was Sie sehen, mein junger Freund?«
Ich fuhr zusammen und merkte erst jetzt, daß die Orgelmusik aufgehört und sich Nemo zu mir umgewandt hatte. Ein sanftes, zugleich stolzes wie auch irgendwie trauriges Lächeln lag auf seinen schmalen Zügen, als er aufstand und auf mich zukam.
Widerstrebend nickte ich. Seine Worte hatten den Zauber zerstört, und obwohl ich genau wußte, wie unlogisch es war, verspürte ich für einen Moment einen tiefen Groll auf ihn. Mit einemmal war die Übelkeit wieder da, und mit ihr kamen all die finsteren Gedanken zurück, mit denen ich mich seit meiner Ankunft auf dem Schiff getragen hatte.
Noch einmal sah ich zu dem blau erleuchteten Riesenbullauge hinüber, dann drehte ich mich vollends zu ihm um und nickte knapp. »Es ist beeindruckend«, sagte ich kurz angebunden und fügte mit einer raschen, meine ganze Umgebung ein schließenden Handbewegung hinzu: »So wie alles hier, Kapitän Nemo. Aber ich weiß nicht, ob ich wirklich Ihr lieber junger Freund bin.« Nemo seufzte. Auf seinem Gesicht mischte sich Enttäuschung mit einem fast resignierenden Ausdruck, als hätte er etwas gehört, was er erwartet hatte. Kopfschüttelnd kam er näher, streckte die Hand aus und berührte mich mit einer fast väterlichen Geste an der Schulter, aber ich entwand mich seinem Griff, trat rasch einen Schritt zurück und starrte ihn finster an.