Nemo hielt meinem Blick einen Moment lang stand, schüttelte abermals den Kopf und deutete auf die Bar neben der Tür. »Darf ich Ihnen ein Glas guten Portwein anbieten, mein Freund?« fragte er.
»Sie dürfen mir eine Erklärung anbieten«, sagte ich übellaunig. Nemo fuhr unter meinen Worten sichtlich zusammen, und für einen kurzen Moment tat er mir beinahe leid; er machte den Eindruck eines Mannes, der einem gestrauchelten Kind auf die Füße helfen wollte und zum Dank einen Tritt vor das Schienbein bekommen hat. Aber dann meldete sich meine Übelkeit wieder, und das Gefühl ließ mich jegliche Gewissensbisse vergessen.
»Was hat das alles hier zu bedeuten?« fauchte ich. »Was soll diese Entführung? Wo bringen Sie mich hin, und warum?«
Nemos Gesicht wurde noch betroffener. »Sie enttäuschen mich, Robert«, sagte er. »Ich habe Sie keineswegs entführt. Wenn ich mich recht erinnere«, fügte er in leicht beleidigtem Tonfall hinzu, »habe ich Ihnen und Ihren Freunden das Leben gerettet.«
»Das bestreitet niemand«, antwortete ich ärgerlich. »Und ich bin Ihnen dankbar dafür, Nemo. Aber warum haben Sie Spears und mich dann gezwungen, an Bord dieses Schiffes zu gehen? Ich muß zurück nach Aberdeen. Ein Freund von mir ist in Gefahr.«
»Ich weiß«, antwortete Nemo traurig. »Sie reden von Kapitän Bannermann.«
Ich blinzelte überrascht. »Sie wissen davon?«
Nemo lachte leise. »Es ist nicht viel, was ich weiß, mein lieber junger Freund«, sagte er. Allmählich begann er, mir mit seinem junger-Freund-Gesülze ernsthaft auf die Nerven zu gehen. Aber ich schluckte die wütende Entgegnung, die mir auf der Zunge lag, im letzten Moment herunter und starrte ihn nur an. »Kapitän Bannermanns Schicksal ist einer der Gründe für Ihr Hiersein, Robert«, fuhr Nemo fort. »Er ist längst nicht mehr in Aberdeen. Sie hätten dort ohnehin nicht mehr viel für ihn tun können.«
»Und Spears?« fauchte ich.
Diesmal wirkte Nemo ehrlich betroffen. Einen Moment lang starrte er mich an, und seine Augen wurden dunkel vor Schmerz, dann wandte er sich mit einem Ruck um, ging zum Fenster und blieb mit hinter dem Rücken verschränkten Händen vor dem gewaltigen Bullauge stehen.
»Warum fragen Sie das?« sagte er plötzlich, sehr leise und in verändertem Tonfall. »Macht es Ihnen Freude, mir Schmerz zu bereiten?«
Ich setzte zu einer neuerlichen, wütenden Entgegnung an, aber plötzlich bekam ich keinen Ton mehr hervor. Mit einem Male kam ich mir gemein vor. Ich bedauerte meine Worte.
»Es... tut mir leid, Nemo«, sagte ich stockend. »Ich wollte Sie nicht verletzen. Aber es ist alles so verwirrend.«
Er seufzte, drehte sich halb herum und sah mich mit einem sonderbaren Blick an. Das blaue Licht, das durch das riesige Fenster hereinfiel, zeichnete huschende Schatten auf seine Züge und ließ die Falten darin tiefer erscheinen, als sie waren; beinahe wie dünne, mit einem Messer eingeschnittene Narben.
»Ich weiß, mein Junge«, sagte er. »Für Sie muß das alles hier sehr verwirrend sein. Aber glauben Sie mir - es ist für alle Beteiligten am besten so.«
»Sie wissen, warum Spears und seine Leute nach Aberdeen gekommen sind?« fragte ich.
Nemo nickte betrübt. »Ich weiß es, Robert. Ich weiß auch, daß er mich hassen muß wie den Teufel. Und ich kann es ihm nicht einmal verdenken. Ich habe seinen Bruder getötet.«
Er sprach nichts anderes aus als das, was ich die ganze Zeit über geahnt hatte. Trotzdem erschrak ich so heftig, daß Nemo rasch hinzufügte: »Es war nichts als ein Unfall, Robert, das müssen Sie mir glauben. Ein bedauerliches Mißverständnis, für das es keine Entschuldigung gibt, aber trotzdem nicht mehr. Zu gegebener Zeit werde ich die Verantwortung dafür übernehmen. Aber im Moment gibt es Wichtigeres zu tun.«
»Haben Sie die Silver Arrow versenkt?« fragte ich, sehr leise und mit nur mühsam beherrschter Stimme. »Und auch all die anderen Schiffe?«
Nemo nickte. »Ja. Im Falle der Silver Arrow war es ein Mißverständnis, wie ich bereits sagte.«
Er sprach nicht weiter, aber das erschien mir in diesem Moment auch nicht notwendig. Das, was er nicht sagte, war weitaus schlimmer als alles, was er hätte sagen können.
»Dann... dann ist das Seeungeheuer, das seit drei Monaten vor der Küste kreuzt und Schiffe verschlingt...«
»Die NAUTILUS«, bestätigte Nemo. »Ja. Aber es ist nicht so, wie Sie jetzt vielleicht glauben. Robert.« Er seufzte, trat einen Schritt auf mich zu und senkte die Rechte in die Tasche seiner blauen Kapitänsjacke. Als er die Hand wieder hervorzog, hielt sie einen schmalen, mit einem roten Siegel verschlossenen Briefumschlag.
»Lesen Sie, Robert«, sagte er. »Danach werden Sie verste hen.«
Zögernd griff ich nach dem Brief, drehte ihn zweimal in den Händen und erbrach dann das Siegel, das mir ohnehin nichts sagte.
Dafür sagte mir die Handschrift, in der der säuberlich zusammengefaltete Brief abgefaßt war, um so mehr.
Es war Howards Schrift!
Verstört sah ich auf und starrte Nemo an. Ein sanftes Lächeln glomm in den dunklen Augen des Kapitäns auf. »Lesen Sie, Robert«, sagte er noch einmal. »Ich schenke uns derweil einen guten Tropfen ein.«
Während er zur Bar eilte und geschäftig mit Gläsern und Fla schen zu hantieren begann, faltete ich mit zitternden Händen das Blatt auseinander und überflog hastig seinen Inhalt, der nur aus wenigen Zeilen bestand.
Mein lieber Robert, stand da, in Howards fast unleserlicher, aber dafür auch beinahe unnachahmlicher, krakeliger Handschrift. Mir bleibt keine Zeit, Dir an dieser Stelle alle Erklärungen zu geben, die notwendig und angebracht wären. Wenn Du diese Zeilen liest, halte ich mich an einem Ort auf, von dem es mir unmöglich ist, direkten Kontakt mit dir aufzunehmen; überdies mögen sich die Dinge anders entwickeln, als es im Moment den Anschein hat. Ich überlasse es also meinem Freund Nemo, Dir das Nötigste zu erklären und Dich einzuweisen.
Vertraue ihm.
Howard
Ich las den Brief dreimal hintereinander, faltete ihn zusammen, starrte Nemo an, hob das Blatt noch einmal in die Höhe und las seinen Inhalt ein viertes Mal.
Nemo lächelte, aber er brachte selbst jetzt das Kunststück fertig, dabei noch irgendwie traurig auszusehen. »Nun?« fragte er.
Ich setzte zu einer Antwort an, schüttelte aber dann bloß den Kopf, steckte den Brief in die Tasche und ging zur Bar hinüber.
Nemo reichte mir schweigend ein Glas mit Portwein, das ich in einem Zug leerte.
»Erzählen Sie«, sagte ich. Es war dunkel geworden, als sie das Haus verließ. Sie hatte James' Leiche in die Kammer geschleift, wo sie sicher gefunden werden würde, aber nicht sofort, so daß ihr Zeit genug blieb, ihr Vorhaben auszuführen. Anschließend hatte sie sich gründlich gesäubert und ein neues Kleid angezogen. In ihrer Hand lag jetzt eine andere Waffe, eines von James' Jagdmessern: eine schwere, nur auf einer Seite geschliffene Klinge, plump und schwerfällig im Vergleich zu dem Dolch, mit dem sie ihren Mann umgebracht hatte. Vielleicht die richtige Waffe, um McGillycaddy zu töten.
Sie fühlte nicht einmal Triumph. Der Mord an James war etwas gewesen, das getan werden mußte und das sie nicht berührt hatte; und so würde es auch mit McGillycaddy sein. Vielleicht, dachte sie müde und mit einer sonderbaren Klarsicht, war ihre Art zu denken jetzt nicht mehr ganz menschlich. Vielleicht war sie selbst jetzt - auf ihre Weise - zu einem ebensolchen Ungeheuer geworden wie McGillycaddy und seine dämonischen Anhänger. Aber wenn, dann hatten sie sie dazu gebracht.