Die Nacht breitete sich wie eine schwarze Decke über der Küste aus, während sie den schmalen, steinigen Pfad zum Gut hinaufging. Es gab eine Straße, eine knappe halbe Meile weiter westlich, auf der sie leichter und schneller vorangekommen wäre, aber sie wollte keinem der anderen begegnen. Sie wußte nicht, ob sie sich gut genug in der Gewalt haben würde, nicht das Messer zu ziehen und jeden zu töten, der sich ihr in den Weg stellte. Aber sie durfte es nicht. Ein scharfer Wind kam auf, als sie die Steilküste erreichte und sich nach Norden wandte, zum Gut und dem See hin, der selbst in der Nacht wie ein mattes silbernes Auge zu erkennen war. Die Luft roch nach Regen, und vom Meer wehte das schwache Echo eines entfernten Gewitters herüber. Ganz automatisch glitt ihr Blick über die unendliche, schwarz daliegende Fläche.
Several stockte mitten im Schritt.
Der See war nicht mehr leer. Ein Stück vor der Küste, vielleicht eine halbe Meile entfernt, vielleicht weniger, war ein gewaltiger Schatten erschienen, formlos und dunkel in der Nacht, nicht mehr als ein Klumpen aus Schwarz vor dem noch tieferen Schwarz des Meeres, aber zu gleichmäßig geformt, um der Schatten einer Wolke sein zu können, und viel zu groß für ein Tier. Ein Schiff. Es kam ihr sonderbar vor, daß sich ein Schiff so nahe an die berüchtigte Steilküste heranwagen sollte, noch dazu bei einer Witterung wie dieser. Dann dachte sie den Gedanken ein zweites Mal, und es war, als bohre sich einglühender Dolch in ihre Brust.
Ein Schiff!
Es gab nur ein Schiff, das es wagen würde, in einer Nacht wie heute so nahe an die Küste heranzukommen, nur ein ein ziges Schiff, das einen Grund hatte, ein solches Risiko einzu gehen.
Zehn, zwanzig endlose schwere Herzschläge lang stand Several Borden reglos wie eine Statue da und starrte auf den monströsen schwarzen Schatten, der da aus dem Meer aufgetaucht war. Etwas bewegte sich, tief unter ihr und auf halber Strecke zwischen dem Schiff und der Küste. Das Licht reichte nicht aus, sie erkennen zu lassen, was es war, aber das war auch nicht nötig. Sie wußte es.
Er! Er war gekommen, er selbst! Immer wieder und wieder und wieder hämmerten ihre Gedanken dieses eine, schreckliche Wort, und mit jedem Male schien die Kälte in ihrem Innern tiefer zu werden. Several erwachte mit einem Ruck aus ihrer Erstarrung, wandte sich um und begann geduckt den Weg zurückzulaufen, den sie gekommen war. Ihre Hand schloß sich so fest um das Messer, daß das grobe Leder ihre Haut aufriß und Blut an ihrem Arm hinablief.
Sie merkte es nicht einmal. »Wo ist Howard?« fragte ich. »Und was sind das für geheimnis volle Anweisungen, die Sie mir geben sollen?«
Nemo hob besänftigend die Hand, um meinen Redefluß zu unterbrechen, schenkte mir Portwein nach und nippte an seinem eigenen Glas, ehe er antwortete. »Immer eines nach dem anderen«, sagte er. »Zuerst möchte ich wissen, ob Sie mir vertrauen. Es ist wichtig.« Ich starrte ihn an. Nemo hielt meinem Blick scheinbar gelassen stand, und sein Gesicht blieb dabei so ausdruckslos wie immer. Aber ich war nicht unbedingt darauf angewiesen, im Gesicht meines Gegenübers zu lesen, um herauszubekommen, ob er mir die Wahrheit sagte oder nicht. Es war ein Teil meines magischen Erbes, daß ich immer - nun gut, fast immer - spürte, ob mein Gesprächspartner mir die Wahrheit sagte oder nicht. Das war der angenehmere Teil der ganzen Geschichte. Es gab auch einen anderen, einen, der mit Buchstaben des Schreckens und Worten der Furcht geschrieben war, aber das gehörte nicht hierher. Wenigstens im Moment nicht.
»Sind Sie wirklich ein Freund von Howard?« fragte ich.
Nemo blinzelte, als hätte er nicht verstanden, was ich meinte. »Natürlich«, sagte er. »Sie haben den Brief gelesen, oder?«
Er sprach die Wahrheit. Ich wußte es im selben Moment, in dem ich die Frage ausgesprochen hatte.
»Wo ist er?« fragte ich. »Und warum kann er nicht selbst kommen?«
»An einem Ort, über den Ihnen mehr zu sagen mir verboten ist«, antwortete Nemo. »Er ist in Gefahr - eine Gefahr, die uns alle bedroht. Vielleicht sogar die ganze Welt. Ich kann Ihnen jetzt nicht alles erklären, denn manche Zusammenhänge sind mir selbst noch nicht ganz klar, und das allermeiste wissen Sie bereits.«
»Ich weiß überhaupt nichts«, fauchte ich. Nemos Geheimnistuerei begann mir ernsthaft auf die Nerven zu gehen. »Ich weiß, daß Kapitän Bannermann entführt wurde und die Scotia keine so harmlose Reederei ist, wie alle Welt zu glauben scheint, und...«
»Und um das herauszufinden, haben Sie sich und ein Dutzend anderer Männer in Lebensgefahr gebracht«, unterbrach mich Nemo ruhig.
Ich starrte ihn an. Die Bedeutung - die wahre Bedeutung seiner Worte ging mir nur ganz allmählich auf. Ich begriff, daß Nemo ein Mann von viel zu feiner Art war, den Vorwurf, der sich hinter seinen Worten verbarg, direkt auszusprechen. Aber ich hörte ihn trotzdem. Und er tat weh. Sehr weh. »Ich verstehe«, sagte ich. »Sie wollen sagen, daß alles nicht nicht passiert wäre, hätte ich meine Nase nicht in Dinge gesteckt, die mich nichts angehen.«
Nemo lächelte. »Ich hätte es etwas weniger drastisch ausgedrückt, mein Junge - aber bitte. Ja, wir wissen schon seit Monaten über Jameson und seine sogenannte Reederei Bescheid, aber wir haben abgewartet. Wir wollten nicht Jameson selbst. Er war nur ein ganz kleines Licht, ein zweitklassiger Betrüger, der im Grunde nicht einmal wußte, was er tat.« Sein Lächeln wurde schmerzlich. »Ein winziges Rädchen im Getriebe, das nach Belieben ersetzbar war. Wie sich gezeigt hat.«
»Dann wäre alles nicht passiert«, murmelte ich. »Bannermann wäre nicht entführt worden und ihre Pläne...«
»Der Schaden ist nicht so groß, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat«, sagte Nemo. »Im Gegenteil. Ihr Auftauchen hat sie nervös gemacht. Vielleicht fangen sie jetzt an, Fehler zu machen.«
»Vielleicht bringen sie Bannermann auch um«, fügte ich hinzu. Meine Worte mußten sehr düster geklungen haben, denn Nemo sah mich einen Moment lang mit undeutbarem Ausdruck an, seufzte plötzlich und streckte die Hand aus, um mich mit einer fast väterlichen Geste an der Schulter zu berühren. Sein Griff war überraschend stark. »Was geschehen ist, ist geschehen«, sagte er sanft. »Es nutzt weder uns noch Kapitän Bannermann, wenn wir uns gegenseitig irgendwelche Schuld zuschieben. Außerdem lebt er noch.«
Ich sah auf. »Sind Sie sicher?«
Nemo setzte zu einer Antwort an, schwieg dann aber einen Moment und seufzte nur. »Ich hoffe es«, gestand er. »Meine... Männer haben ihn aus den Augen verloren. Aber wir wissen, wohin sie ihn gebracht haben.«
»Dann müssen wir ihn befreien!« sagte ich erregt.
Nemo schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Robert«, sagte er. »Aber das ist etwas, was Sie allein tun müssen. Ich kann auf keinen Mann verzichten, so, wie die Dinge liegen. Und die NAUTILUS wird für... für eine andere Aufgabe gebraucht.«
Das fast unmerkliche Stocken in seinen Worten fiel mir auf, aber ich tat so, als hätte ich es überhört. Ich hatte eine ziemlich feste Vorstellung von dem, was er mit einer »anderen Aufgabe« meinte.
»Wo ist er?« fragte ich, als Nemo auch nach einer Weile noch nicht weitersprach.
»Bannermann?« Nemo wies mit einer Kopfbewegung auf das Bullaugen-Fenster. »Nicht sehr weit von hier. Ich bringe Sie zur Küste, so nahe heran wie möglich und...«
»So nahe wo heran?« unterbrach ich ihn.
Nemo zögerte. Seine Gelassenheit verflog zusehends. Ganz offensichtlich hatte das ganze Gespräch bisher nur einem einzigen Zweck gedient - nämlich mich möglichst schonend auf das vorzubereiten, was er wirklich von mir wollte. Ich verbiß mir im letzten Moment die scharfe Bemerkung, die mir auf der Zunge lag. Manchmal vergaß ich, wie schwer es für meine Mitmenschen sein mußte, sich mit einem Mann zu unterhalten, den man nicht belügen konnte.