»Nach Firth'en Lachlayn«, sagte Nemo schließlich, nachdem er eine Weile herumgedruckst hatte.
»Was ist das?« fragte ich. »Eine Halskrankheit?«
Nemo lächelte pflichtschuldig. »Nein«, sagte er. »Der Ort, an dem ihr... nun, sagen wir: Hauptquartier liegt.« Er fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen, verkroch sich für endlose Sekunden hinter dem Rand seines Portweinglases und fuhr, hörbar nervöser und beinahe gehetzt, fort: »Aber Sie haben nicht viel Zeit, Robert. Ich wollte, es wäre anders, aber Sie haben erlebt, wozu sie fähig sind. Wir müssen diese Brut auslöschen, ehe noch mehr Unschuldige sterben.«
Ich nickte. Nicht, daß ich auch nur ein Wort verstand, aber ich hatte das bestimmte Gefühl, daß ich das auch nicht sollte.
»Sie meinen diese Shoggoten-Bestien?« vermutete ich.
Nemo nickte. »Wir wissen, wo ihre Brutstätte ist«, sagte er. »Und wir werden sie vernichten. Es gibt noch etwas, das getan werden muß, aber danach wird die NAUTILUS Kurs auf Loch Firth nehmen und diese Brut auslöschen, ein für allemal.« Er sah mich an, und er tat es auf jene ganz bestimmte Art und Weise, auf die man jemanden ansieht, von dem man eine bestimmte Reaktion erwartete. Nemo wartete wohl allerdings eher auf ein Stichwort.
Ich tat ihm den Gefallen.
»Ich nehme an, der Ort, an dem Bannermann gefangen gehalten wird, ist identisch mit dieser... Wie haben Sie sie genannt? Brutstätte?«
Nemo nickte.
»Und ich nehme weiter an«, sagte ich, so ruhig ich konnte, »Sie werden keine Rücksicht darauf nehmen, wenn Bannermann oder ich noch da sein sollten, wenn Sie zuschlagen?«
»Das kann ich nicht, Robert«, murmelte Nemo. »Es... es steht zu viel auf dem Spiel. Wir dürfen kein Risiko eingehen. Wenn auch nur ein einziges dieser Ungeheuer entkommt...«
Er sprach nicht weiter, sondern schwieg, aber er tat es auf eine sehr vielsagende Weise. Und es war ein sehr beredtes Schweigen. Ein Schweigen, das die Erinnerungen an einen nach Abfällen und Fäulnis riechenden Schacht in mir wachrief, die Erinnerung an brackiges braunes Wasser und große, augenlose Kaulquappenmonster, an schnappende Haifischgebisse und die Todesschreie von Menschen.
Ich nickte. »Wieviel Zeit habe ich?«
»Vierundzwanzig Stunden, Robert«, sagte Nemo. »Nicht einmal ganz vierundzwanzig Stunden.«
Der Wind war kälter geworden; böig, schneidend und auf schwer in Worte zu fassende, aber dafür um so deutlicher fühlbare Weise boshaft. Es kam Several viel weniger wie das Heulen des Seewindes vor, sondern mehr wie das Wimmern gefangener Seelen. Die eisigen Böen, die wie unsichtbare Messer in ihr Gesicht schnitten, ihr Haar peitschten und ihr die Tränen in die Augen trieben, kamen ihr wie Hiebe unsichtbarer Krallen vor, das Heulen und Pfeifen, mit dem sich die Luft an den Felsvorsprüngen und Graten der Küste brach, wie das düstere Versprechen auf Tod und endlose Qual, die sie erwartete, wenn sie nicht von ihrem Tun abließ.
Sie verscheuchte den Gedanken. Sie war noch immer ganz ruhig, und alles, was sie in sich fühlte, waren eine sonderbare, körperlose Kälte und Entschlossenheit, aber Gedanken wie diese mochten die Furcht mit sich bringen, die Dämonen der Angst, die sie ihr Leben lang gepeinigt hatten und die keineswegs vollends besiegt waren. Sie durfte es ihnen nicht erlauben, abermals Gewalt über sie zu erlangen. Nicht in diesem Moment. Später, wenn alles getan war, war Zeit genug, Angst zu haben.
Beinahe lautlos näherte sie sich der Stelle, an der das Boot die Küste erreichen mußte. Several kannte jeden Fußbreit Bodens der unwegsamen Steilküste genau; sie wußte, daß es auf Meilen hin nur eine einzige Stelle gab, an der ein Boot das Land erreichen konnte, ohne Gefahr zu laufen, von den wütend gegen den Kreidefelsen anrennenden Wogen zerschmettert zu werden. Der gewaltige schwarze Schatten draußen auf dem Meer war wieder verschwunden, so lautlos und rasch, wie er aufgetaucht war, aber der kleinere Schatten, den er geboren hatte, war noch da, näherte sich, auf und ab hüpfend und im Zickzack dem willkürlichen Kurs folgend, den ihm die Wellen aufzwangen, dem Fuß der gewaltigen Kreidemauer.
Several ergriff das Messer fester. Für einen ganz kurzen Moment überkamen sie Zweifel - was, wenn das Messer, das für sterbliches Fleisch gedacht war, seine Haut nicht zu durchschneiden vermochte. Was, wenn sie ihn nicht töten konnte, weil er unsterblich war und nur wie ein Gott einen Gott zu vernichten wußte? Was, wenn er bereits wußte, daß sie hier oben stand, bereit, ihn zu töten, und sich darauf vorbereitete?
Plötzlich fiel ihr ein, daß James einmal, als er betrunken und vom Punsch redselig geworden war, wie im Scherz erwähnt hatte, daß er sich ohne Worte und über große Entfernung zu verständigen wußte, und mit einem Male sah sie wie in einer blitzartigen Vision das Bild von Männern auftauchen, Männern mit Fackeln und Gewehren und Stricken, die seinen Ruf gehört hatten und kamen, um sie zu fassen, lange, ehe sie ihre Rache vollziehen konnte.
Several erhob sich ein Stück aus dem Gebüsch, in dem sie Schutz gesucht hatte, und sah zum Land zurück. Der Schatten des Gutes ragte wie eine finstere Trutzburg vor dem Nachthimmel empor, durch das Spiel der Schatten und Wolken und ihre eigene Angst zu einem bizarren, grausigen Etwas verzerrt, eine dreifingrige gemauerte Klaue, die gierig nach dem Himmel zu greifen schien, als wolle sie den Mond herabzerren und zermalmen.
Aber das war nur ein Schatten. Nichts regte sich dort drüben, nichts mit Ausnahme des Lichtes, das durch die Fenster im Erdgeschoß schien und flackerte, wenn sich jemand davor bewegte.
Nein - er wußte nicht, daß sie hier war. Niemand wußte es, niemand würde es merken, bis es zu spät war. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Meer und dem winzigen langgestreckten Schatten darauf zu.
Langsam kam das Boot näher, wie ein trockener Ast auf den Wellen auf und ab hüpfend.
»Dort hinauf?« Auf dem Gesicht meines Gegenübers war keine Reaktion auf meine Worte abzulesen, denn es lag nicht nur hinter einem Schleier aus rabenschwarzer Finsternis, sondern zusätzlich hinter einer runden, auf der äußeren Seite verspiegelten Glasscheibe verborgen, die zu seinem wuchtigen Taucherhelm gehörte. Aber meine Stimme mußte wohl ziemlich entsetzt geklungen haben, denn der Mann nickte übertrieben und lachte; ein Laut, der vom Metall seines Helmes sonderbar verzerrt wurde.
»Es ist nicht so schwer, wie es aussieht«, antwortete er. Seine behandschuhte Rechte deutete nach hinten, dorthin, wo sich die Steilküste sieben oder acht Meilen weit lotrecht in den Himmel erstreckte. Jedenfalls kam es mir so vor. Im schwachen Licht des Mondes war die Wand nicht als solche zu erkennen. Die Welt schien am Ende des kaum drei Schritte breiten Sand- und Geröllstreifens einfach aufzuhören.
Mißtrauisch äugte ich in die angegebene Richtung hinüber. Vielleicht hatte der Mann ja sogar recht; aber nach vierundzwanzig Stunden, in denen meine Seekrankheit von Minute zu Minute schlimmer geworden war, wäre es mir schon schwer erschienen, einen Bordstein hinaufzusteigen.
Geschweige denn eine hundert Fuß hohe Felswand...
Der Matrose richtete sich auf, hob beide Hände an den Helm und drehte die wuchtige Metallkugel nach links. Etwas klickte, dann hob er den ganzen Taucherhelm ab, setzte ihn vor sich in den Sand und fuhr sich mit den gespreizten Fingern der Rechten wie mit einem Kamm durch das Haar.
Ich sah, daß er noch sehr jung war; kaum so alt wie ich. Irgendwie schien mir sein jugendhaft glattes Gesicht nicht zu der monströsen Taucherausrüstung zu passen, die er trug. Ich hatte eine Art bärtigen Piraten mit Augenklappe oder etwas ähnlich Abenteuerliches erwartet. Aber schließlich sah ich selbst kaum besser aus. Nemo hatte darauf bestanden, daß ich eine seiner Tiefsee-Ausrüstungen anlegte, bevor ich die NAUTILUS verließ. Abgesehen davon, daß mir ihre gut zwei Zentner Gewicht zu einem unfreiwilligen Konditionstraining verhalfen, hatte ich bisher keinen tieferen Nutzen in diesem Befehl entdeckt.