»Die Küste ist nicht so unwegsam, wie es aussieht«, sagte der Matrose noch einmal. »Es gibt sogar einen Weg nach oben. Nicht besonders komfortabel, aber man kann ihn gehen. Die Leute hier in der Gegend haben ihn früher zum Schmuggeln benutzt«, fügte er hinzu.
Ich hörte kaum zu. Aber ich hatte meinen Helm abgeschraubt und unter den Arm geklemmt - eine Haltung, die vielleicht leger aussah, aber äußerst unbequem war. Der kalte Wind, der von See her gegen die Küste fauchte, tat gut, denn unter dem luftdicht schließenden Kupferhelm hatte eine furchtbare Hitze geherrscht. Auf meiner Stirn perlte noch immer Schweiß, und in meinen Eingeweiden schien ein ganzes Bataillon Shoggoten gegeneinander zu kämpfen. Nemo hatte mir Tabletten gegeben, die meine Seekrankheit linderten. Angeblich. Ich dachte lieber nicht daran, wie schlimm ich mich wohl ohne sie gefühlt hätte.
Der Matrose sah mich noch einen Moment lang ernst an, dann nickte er zum Abschied, setzte seinen Helm wieder auf und schob das Boot zurück ins Meer. Lautlos und von der gleichen, geheimnisvollen Kraft angetrieben, die auch die NAUTILUS bewegte, dreht sich sein stumpfer Bug nach Osten. Unter dem Heck begannen weiße Luftblasen aufzusteigen und sich mit dem Schaum der Brandung zu vermischen, dann setzte sich das Boot in Bewegung und glitt leicht wie ein Fisch zurück ins Meer. Kurz bevor es außer Sicht kam, hob der einsame Mann in seinem Heck noch einmal die Hand und winkte, und die Bewegung erfüllte mich mit einem sonderbaren Schaudern. Trotz der erstickenden Wärme im Inneren des Taucheranzuges fröstelte ich plötzlich.
Mit einem Ruck wandte ich mich um, trat dicht an die Felswand heran und begann den Taucheranzug abzulegen. Es war eine umständliche Aufgabe, denn obgleich mir Nemo jeden Handgriff, der dazu nötig war, erklärt hatte, war ich in solcherlei Dingen nicht geübt und stellte mich alles andere als geschickt an. Ich benötigte annähernd eine halbe Stunde, mich des Unterwasserpanzers zu entledigen und meine eigenen Kleider, die ich in einem wasserdichten Beutel mitgebracht hatte, wieder anzuziehen, und dann noch einmal die halbe Zeit, den sperrigen Anzug zu einem Bündel zu verschnüren und am Fuß der Felswand zu vergraben.
Es mußte auf Mitternacht zugehen, als ich endlich fertig war und den Aufstieg in Angriff nahm. Ich fand den Weg, von dem der Matrose gesprochen hatte, beinahe auf Anhieb, aber es war nur auf den unteren dreißig, vierzig Fuß wirklich ein Weg - danach wurde er zu einer abenteuerlichen Kletterpartie, bei der ich mehr als einmal wie eine vierbeinige Spinne senkrecht an der Wand hinaufsteigen mußte, mit Händen und Füßen in winzigen Felsspalten Halt suchend und verzweifelt darum bemüht, nicht in die Tiefe zu blicken.
Auf den letzten zehn Yards verließen mich beinahe meine Kräfte. Mir wurde übel, und für einen Moment begannen sich der Himmel und das pechschwarz daliegende Meer um mich zu drehen; ich spürte, wie ich den Halt zu verlieren begann, preßte mich mit verzweifelter Kraft an den rauhen Fels und wartete mit angehaltenem Atem, bis der Anfall vorüber war.
Langsam kletterte ich weiter. Nach einer Ewigkeit tauchte die zerbröckelte Kante der Steilwand vor mir auf. Vorsichtig löste ich meine linke Hand von ihrem Halt, griff nach einem dürren Strauch, dessen Wurzeln tief genug im Fels verkrallt zu sein schienen, um mir Halt zu bieten, und zog mich mit einem entschlossenen Ruck vollends auf den Felsen hinauf.
Ich hatte die Bewegung noch nicht halb zu Ende geführt, als der Busch auseinandergerissen wurde. Ein Schatten wuchs gigantisch und drohend zu mir empor, und ein verirrter Lichtstrastrahl spiegelte sich auf Metall. Instinktiv rollte ich zur Seite und riß die Hände vor das Gesicht. Das Messer schrammte über meine Handflächen, raste meinen Arm hinauf und zielte auf meinen Hals. Verzweifelt bog ich den Kopf zur Seite, trat nach den Beinen des plötzlich aufgetauchten Angreifers und spürte, wie der Dolch an meiner Wange hinaufglitt und verschwand, als der Fremde von den Füßen gerissen wurde.
Blitzartig wälzte ich mich herum und stemmte mich auf Hände und Knie hoch.
Gerade noch rechtzeitig, um das Knie zu sehen, das nach meinem Gesicht stieß. Ich kippte ein zweites Mal zur Seite - und hatte plötzlich nichts mehr als hundert Fuß eisige Luft unter mir!
Verzweifelt streckte ich die Arme aus, bekam die Felskante zu fassen und krallte mich mit aller Gewalt fest. Der Ruck schien mir die Arme aus den Gelenken zu reißen. Ich spürte, wie meine Beine wie ein übergroßes Pendel durch die Luft schwangen, versuchte mich auf den Anprall vorzubereiten und keuchte abermals vor Schmerz, als mir der Schlag die Knie bis in den Magen hinauftrieb.
Über mir erscholl ein gellender Schrei. Ich warf den Kopf in den Nacken, sah den Dolch auf meine rechte Hand niederstoßen und griff blindlings mit der anderen zu. Meine Finger krallten sich in rauhen Stoff und rissen mit aller Macht daran.
Zum zweitenmal ging der unheimliche Angreifer zu Boden. Das Messer verfehlte meine Hand um Haaresbreite. Ich klammerte mich mit aller Macht an sein Fußgelenk und zog mich Stück für Stück wieder auf die Felswand zurück.
Aber ich hatte vergessen, daß der andere zwei Füße hatte. Den einen hielt ich umklammert und benutzte ihn als Kletterseil. Der andere stieß in mein Gesicht, kaum daß ich die Nase über den Felsen streckte. Ich schluckte einen Fluch herunter und stemmte mich weiter in die Höhe.
Der nächste Tritt ließ meine Lippe aufplatzen. Mit einem wütenden Knurren warf ich mich vor, begrub den Angreifer halbwegs unter mir und preßte ihn allein mit meinem Körpergewicht zu Boden. Das Messer blitzte auf. Ich duckte mich, schlug dem Burschen so wuchtig vor das Handgelenk, daß das Messer davonflog und klirrend in der Dunkelheit verschwand, rutschte blitzschnell noch einmal ein Stück nach vorn, nagelte seine Oberarme mit den Knien am Boden fest und schlug ihm mit dem Handrücken ins Gesicht.
Der Bursche stieß ein helles Zischen aus und wand sich wie eine Raubkatze. Ich versetzte ihm eine Maulschelle, daß er glauben mußte, Big Ben in seinem Schädel schlagen zu hören. Seine einzige Reaktion bestand darin, daß er versuchte, mir die Augen auszukratzen. Wütend packte ich ihn an den Jackenauf schlägen.
Aber mein Griff war in der Hast nicht sicher genug; ich erwischte ihn nicht am Kragen, sondern ein Stück tiefer - und was ich unter dem groben Stoff seiner Bluse fühlte, war ganz und gar nicht die haarige Männerbrust, die ich mit dem Bild eines heimtückischen Messerstechers assoziierte!
Vor Überraschung ließ ich meinen Gefangenen fahren, packte aber sofort wieder zu, zerrte ihn auf die Füße und zwang ihn, den Kopf so zu drehen, daß ich sein Gesicht im Mondlicht erkennen konnte. Die nächsten zehn Sekunden brachte ich damit zu, das Gesicht der schmalen Gestalt anzustarren, die in meinen Händen zappelte.
»Um Gottes willen«, murmelte ich. »Sie... Sie sind ja eine Frau!« Instinktiv lockerte ich meinen Griff wieder. Meine Gefangene starrte mich an, schürzte wütend die Lippen - und knallte mir das Knie in eine besonders empfindliche Stelle.
Das Klirren, mit dem die Tür hinter ihm ins Schloß fiel, erinner te Spears an das Geräusch, mit dem ein gewaltiger steinerner Deckel auf den Rand eines Sarkophages krachen mochte. Trotz allem war er freundlich behandelt worden; weniger wie ein Gefangener als vielmehr wie ein Gast; ein gern gesehener Gast noch dazu.
So ähnlich, glaubte er sich zu entsinnen, waren auch Nemos Worte gewesen.
Der Gedanke an das schmale, von einem überdimensionierten Vollbart sonderbar in die Länge gezogene Gesicht Nemos weckte den Zorn wieder in ihm. Während der letzten Stunden - Spears wußte nicht, wie viele es waren, denn sie hatten ihm auch seine Uhr weggenommen - hatte er den Kapitän der NAUTILUS beinahe vergessen; bei all dem Sonderbaren und Erstaunlichen, das ihm begegnet war. Er wußte nicht, wo er war, aber er glaubte zu spüren, daß sich dieses »wo« tief unter der Wasseroberfläche verbarg. Er fühlte das Meer, die zahllosen Tonnen Salzwasser, die den schwarzen Felsen über seinem Kopf bedeckten und geduldig an den Wänden nagten. Spears hatte den größten Teil seines Lebens auf oder wenigstens an der See verbracht. Irgendwie war er zu einem Teil von ihr geworden.