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Neugierig sah er sich um. Der Raum, in den sie ihn gebracht hatten, war wenig größer als die Zelle, in der er die ersten vierundzwanzig Stunden seiner Gefangenschaft verbracht hatte, aber behaglicher eingerichtet. Wie alles hier waren die Wände aus schwarzem Lavagestein, vor dem das kostbare Mobiliar sonderbar deplaciert wirkte. Es gab einen Tisch, auf dem ein Glas und eine bereits entkorkte Weinflasche standen, daneben eine Silberschale mit Trauben, dahinter, einladend mit seidenen Kissen drapiert, eine zierliche Chaiselongue. Von der Decke hing ein gewaltiger, elektrisch betriebener Lüster, und neben der Tür, genau gegenüber der Couch, hing ein gewaltiger, goldgefaßter Spiegel.

»Was soll ich hier?« fragte Spears, nachdem er sich rasch, aber sehr gründlich, umgesehen hatte.

»Sie werden hier warten«, antwortete der Mann, der ihn abgeholt und hierher gebracht hatte. Er war ein Riese, mehr als sieben Fuß groß und mit einem Gesicht, das von zahllosen Schlägereien gezeichnet war, auf dem aber sonderbarerweise trotzdem ein beinahe sanfter Ausdruck lag. Er war nicht bewaffnet, aber seine Fäuste waren wenig kleiner als Kokosnüsse, und Spears hatte den Gedanken, ihn angreifen und überwältigen zu wollen, nach einer halben Sekunde wieder fallen gelassen.

»Auf wen?« fragte er.

Der Riese lächelte: »Kapitän Nemo wird mit Ihnen sprechen«, sagte er. »Setzen Sie sich. Wenn Sie irgend etwas brauchen, rufen Sie. Ich warte draußen vor der Tür.« Damit wandte er sich um, öffnete die zollstarke Eisentür und trat gebückt auf den Korridor hinaus.

Spears starrte ihm finster nach. Während der ersten Stunden seiner Gefangenschaft hatte er getobt und immer wieder danach verlangt, Nemo zu sehen. Jetzt hatte sich seine Wut gelegt, aber er fühlte etwas anderes, eine sonderbare Art finsterer Entschlossenheit, die ihn selbst erschreckt hätte, hätte er darüber nachgedacht. Nemo... Der Mann, der für den Tod seines Bruders und zahlloser Unschuldiger verantwortlich war!

»Warum nehmen Sie nicht Platz, Kapitän Spears?«

Die Stimme kam aus dem Nichts. Spears fuhr erschrocken zusammen, hob instinktiv die Fäuste und sah sich wild um. Aber er war allein. Und es gab in der Kammer nichts, was groß genug gewesen wäre, einen Menschen zu verstecken.

»Bitte, mon Capitan«, sagte die Stimme, die er nun als die Nemos identifizierte. »Seien Sie so gütig, auf der Chaiselongue Platz zu nehmen. Es redet sich besser.«

»Wo sind Sie?« keuchte Spears. »Was, zum Teufel, soll dieser Humbug?«

Nemo lachte leise. Es war ein perlender, ganz leicht verzerrt klingender Laut, der aus keiner bestimmten Richtung zu kommen schien, sondern das kleine Zimmer zur Gänze ausfüllte. Spears schauderte. Wenn Nemo sich vorgenommen hatte, ihn zu verunsichern, dann hatte er es geschafft.

Verwirrt drehte er sich noch einmal im Kreis, zuckte schließlich trotzig mit den Achseln und ließ sich so wuchtig auf die kleine Couch fallen, daß das Holzgestell des Möbels hörbar ächzte.

»Oh, bitte, mein Freund - seien Sie etwas behutsamer«, sagte Nemos Stimme. »Diese kleine Kostbarkeit diente bereits dem großen Napoleon Bonaparte als Ruhemöbel.«

Spears fuhr verärgert hoch, wandte den Blick und erstarrte.

Der riesige Spiegel neben der Tür hatte sich verändert. Auf dem geschliffenen Kristallglas war nicht mehr das Spiegelbild des Zimmers zu sehen - sondern das überlebensgroße Porträt Kapitäns Nemos.

Und dieses Bild bewegte sich!

Spears Augen weiteten sich vor Unglauben, als er sah, wie ein sanftes Lächeln über die Züge Nemos huschte und sich seine Lippen bewegten, als er sprach.

»Nun, mon Ami, ich hoffe, Sie sind mit Ihrer Unterbringung zufrieden. Es war mir leider in der Kürze der Zeit nicht möglich, Ihnen und Ihren Leuten den Komfort angedeihen zu lassen, der Ihnen zukäme. Bitte, nehmen Sie meine Entschuldigung in aller Form an.«

»Was... was ist das?« krächzte Spears. »Das... das ist unmöglich. Das ist... Zauberei.«

Nemo verzog das Gesicht, als hätte er unversehens in einen sauren Apfel gebissen. »Aber ich bitte Sie, mein Freund«, sagte er. »Was Sie sehen, hat so wenig mit Zauberei zu tun wie die NAUTILUS selbst.«

»Aber das ist... unmöglich!« protestierte Spears. Er stand auf, machte einen Schritt auf den verzauberten Spiegel zu und streckte die Hand aus, führte die Bewegung aber nicht zu Ende. Seine Finger verharrten zitternd wenige Inches vor dem überle bensgroßen Bild.

»Berühren Sie es ruhig«, sagte Nemo. »Nur keine Furcht. Ihnen geschieht nichts.«

Spears schluckte, streckte den Arm weiter aus und fühlte glattes, kaltes Glas. Aber wieso bewegte sich das Porträt wie ein lebendes Gesicht?

Verwirrt zog er die Hand wieder zurück und starrte Nemo an. »Was wollen Sie?« fragte er. »Ich habe verlangt, mit Ihnen zu sprechen - nicht irgendwelche Taschenspielertricks vorgeführt zu bekommen.«

»Seien Sie versichert, daß es sich um alles andere als einen Taschenspielertrick handelt«, sagte Nemo lächelnd. »Leider reicht unsere Zeit nicht aus, Ihnen alles zu erklären...«

»Ich wüßte nicht, was Sie mir erklären könnten!« unterbrach ihn Spears. »Sie sind ein Mörder, Nemo. Sie und Ihr verdammtes Schiff sind für den Tod zahlloser unschuldiger Menschen verantwortlich. Sie... Sie haben meinen Bruder umgebracht!«

Nemo schwieg einen Moment, und der Ausdruck von Spott in seinen Augen erlosch und machte einer deutlichen Betroffenheit Platz. »Vielleicht haben Sie sogar recht«, sagte er plötzlich.

»Ich kann nicht verlangen, daß Sie mich verstehen, Kapitän. Ich kann Ihnen nur versichern, daß es ein bedauerlicher Unfall war, der zum Untergang der Silver Arrow geführt hat.«

Spears keuchte. »Dann geben Sie es zu? Dann... dann haben Sie wirklich alle diese Schiffe versenkt?«

»Ja.« Nemo nickte. »Es war Notwehr, Kapitän. Die Arrow hat das Feuer auf uns eröffnet und wir...«

»Das Feuer!« Spears schrie fast. »Das Feuer mit einer kleinen Haubitze! Wenn Ihr famoses Schiff auch nur halb so gut ist, wie Sie behaupten, warum sind Sie dann nicht einfach wegge taucht? Wie kann ein kleiner Kreuzer wie die Arrow einem Giganten wie der NAUTILUS gefährlich werden?« Wütend ballte er die Hände zu Fäusten und trat abermals auf den Spiegel zu. »Ich will mit Ihnen reden!« schrie er. »Mit Ihnen selbst! Kommen Sie her! Ich will, daß Sie mir in die Augen sehen, wenn Sie mir sagen, daß Sie meinen Bruder aus Notwehr getötet haben!«

Nemo seufzte. »Das ist im Augenblick leider nicht möglich, mein Freund«, sagte er bedauernd. »Ich befinde mich mehrere Dutzend Seemeilen von Ihrem Standort entfernt, müssen sie wissen, und...«

»Lüge!« kreischte Spears. »Das alles ist nichts als ein übler Trick. Sie wollen mich beeindrucken, um von der Tatsache abzulenken, daß Sie ein Mörder sind.«

Nemo schüttelte den Kopf und antwortete mit seiner sanften, noch immer geduldig klingenden Stimme, aber Spears hörte gar nicht mehr hin. Plötzlich war alles ganz klar. Er wußte sehr wohl, daß es unmöglich war, über eine Distanz von mehreren Dutzend Meilen mit einem Menschen zu sprechen. Wie hatte er jemals auf diesen billigen Jahrmarktstrick hereinfallen können - ein gebogener Spiegel, der von einer Seite durchsichtig war und das Bild des Dahinterstehenden vergrößerte, ein paar geschickt aufgestellte Lampen, die dem Ganzen einen unheimlichen Effekt gaben. Für wie leicht zu beeindrucken hielt ihn Nemo?