»Sie verdammter Mörder!« brüllte er. »Aber Sie entkommen mir nicht. Jetzt bezahlen Sie!« Damit wirbelte er herum, riß den Tisch in die Höhe und schleuderte ihn mit aller Macht gegen den Spiegel. Nemos gellender Schrei ging im Bersten und Splittern von Glas unter.
Ein greller Blitz blendete Spears. Der Spiegel zerbarst, aber dahinter kam kein verstecktes Kabinett zum Vorschein, sondern ein kaum handtiefer Hohlraum voller bunter Leitungen und Drähtchen, dazwischen gläserne Röhren und eine Unzahl unverständlicher technischer Dinge.
Dann zuckte ein zweiter Blitz auf, tauchte die Kammer in blauweißes, flackerndes Licht und zerfetzte die metallischen Eingeweide des Spiegels. Spears prallte mit einem überraschten Schrei zurück, als ein Hagel von Glassplittern auf ihn niederprasselte. Das Licht flackerte, ging aus und gleich darauf wieder an.
Und im selben Moment glitt die Tür zur Seite.
Spears überlegte nicht mehr. Wie von Sinnen fuhr er herum, duckte sich unter den zupackenden Klauen des Riesen weg, der hereingestürzt war, um seinem Toben ein Ende zu bereiten, und versetzte ihm einen Stoß vor die Brust. Der Mann taumelte, kämpfte einen Moment mit wild rudernden Armen um sein Gleichgewicht - und fiel mit einem erstickten Schrei in den zerborstenen Rahmen hinein.
Seine Hände berührten eines der glänzenden Kupferkabel, die wie metallene Gedärme aus dem Spiegel gequollen waren.
Ein grelles, unheimliches Licht glomm plötzlich auf. Spears hörte ein Zischen, und mit einem Male verzerrte sich das Gesicht des Mannes vor Schmerz. Sein Körper zuckte wie unter dem Hieb einer unsichtbaren Peitsche. Winzige, blau glühende Flämmchen rasten seine Hand und den Arm hinauf. Er schrie, versuchte sich zurückzuwerfen und die Hand von dem Kabel zu lösen, aber seine Finger schienen an dem glänzenden Metall festzukleben.
Dann zerriß ein neuerlicher, noch grellerer Blitz die zerstörten Innereien des Spiegels vollends, und wieder erlosch das Licht. Diesmal dauerte es mehrere Sekunden, ehe es wieder aufleuchtete.
Aber da war Spears schon nicht mehr im Zimmer. Ich versuchte aufzustehen, aber es klappte nicht gleich. Der einzige Gedanke, der mir überhaupt noch die Kraft gab, mich hochzustemmen, war der, daß unter Umständen mein Leben davon abhängen mochte, vor der dunkelhaarigen Frau auf die Beine zu kommen, die neben mir im Gras lag.
Ich erinnerte mich kaum, sie niedergeschlagen zu haben. Ich hatte für Augenblicke das Bewußtsein verloren, nach ihrem heimtückischen Kniestoß, aber meine antrainierten Reflexe hatten mich im letzten Moment noch zurückschlagen lassen.
Wäre es nicht so, dachte ich mit einer Mischung aus Erleichterung und mühsam zurückgehaltenem Zorn, dann würde ich wohl jetzt mit durchschnittener Kehle hier liegen; vielleicht auch schon hundert Fuß tiefer auf den tödlichen Felsriffen vor der Küste.
Vorsichtig stand ich auf, atmete ein paarmal tief und gezwungen ruhig durch und ließ mich dann neben der Bewußtlosen abermals auf die Knie sinken.
Behutsam drehte ich sie auf den Rücken und betrachtete ihr Gesicht im schwachen Licht des Mondes. Es war ein schmales, sehr gepflegtes Gesicht, das Gesicht einer Frau Mitte Vierzig, dessen beinahe aristokratischer Schnitt nicht so recht zu dem groben Sackleinenkleid passen wollte, das sie trug. Ein sanfter Zug lag um ihren Mund, und obwohl ihr Gesicht auf der linken Seite dunkel und angeschwollen und ihre Oberlippe aufgeplatzt waren, konnte ich erkennen, daß sie sehr schön sein mußte.
Instinktiv streckte ich die Hand aus und wischte das Blut aus ihrem Mundwinkel. Ihre Bewußtlosigkeit konnte nicht sehr tief gewesen sein, denn schon die sanfte Berührung meiner Finger reichte, sie aufzuwecken. Ein spürbares Zucken ging durch ihren Körper, dann flogen ihre Lider mit einem Ruck auf, und ich begegnete dem Blick zweier dunkler Augen.
Ich zog rasch die Hand zurück, denn nach allem, was geschehen war, hätte es mich nicht sehr gewundert, wenn sie versucht hätte, mir die Finger abzubeißen.
Meine Gefangene versuchte sich aufzurichten, aber ich stieß sie zurück, schüttelte den Kopf und bemühte mich, ein mög lichst finsteres Gesicht aufzusetzen. »Bleiben Sie liegen«, sagte ich streng.
Ihr Blick verfinsterte sich um weitere Nuancen. Dann erschien ein neuer Ausdruck darin.
»Sie... Sie gehören nicht zu ihnen«, sagte sie.
»Nein«, antwortete ich. »Ich weiß zwar nicht, wen Sie meinen, aber bei Ihrem Benehmen gehöre ich schon aus Prinzip nicht dazu. Von wem reden Sie?«
»Wer sind Sie?« fragte die dunkelhaarige Frau. »Sie... Sie sind aus dem Meer gekommen. Ich habe es gesehen. Wer sind Sie?«
Ich seufzte, richtete mich ein wenig auf und ließ es zu, daß auch sie sich aufsetzte, blieb aber weiterhin angespannt. »Mein Name ist Craven«, sagte ich. »Robert Craven. Und wer sind Sie? Und warum«, fügte ich nach einer winzigen Pause hinzu, »haben Sie versucht, mich umzubringen?«
»Nicht Sie«, antwortete die Frau. »Ihn. Aber Sie sind nicht er.«
Verwirrt schüttelte ich den Kopf, stand vollends auf und trat rasch einen Schritt zurück. »Hören Sie, Miß...«
»Borden«, antwortete die dunkelhaarige Frau. »Several Bor den.«
Ich nickte. »Miß Borden. Ich weiß nicht, wen Sie meinen. Ich möchte nur wissen, warum Sie versucht haben, mich zu töten. Ist das Ihre Art, Fremde zu empfangen?«
Wenn Several Borden meinen schwachen Versuch, Humor zu demonstrieren, überhaupt bemerkte, so reagierte sie nicht darauf. Sie starrte mich nur an, stand dann plötzlich und mit einer so raschen Bewegung auf, daß ich instinktiv ein weiteres Stück zurückwich, und blickte zum Meer hinab.
»Ich habe auf ihn gewartet«, murmelte sie. »Aber er ist nicht gekommen. Ich habe versagt.« Plötzlich, ganz warnungslos, begann sie zu schluchzen, drehte sich herum und warf sich gegen mich, diesmal aber nicht mehr, um mich anzugreifen, sondern um das Gesicht an meiner Brust zu verbergen und hemmungslos zu weinen.
Hilflos ließ ich sie eine Weile gewähren, dann legte ich behutsam die Hände auf ihre Schultern, schob sie ein Stück von mir fort und sah ihr in die Augen.
»Beruhigen Sie sich«, sagte ich. »Sie sind nicht mehr in Gefahr. Es ist alles gut.«
Meine Stimme wurde immer leiser, aber es waren auch nicht die Worte, auf die es ankam. Ich spürte ihre Erregung, den grenzenlosen Schmerz, der wie ein vergifteter Pfeil in ihrer Seele wühlte, die Verzweiflung, die stärker war als jedes andere Gefühl in ihr, und so behutsam ich konnte, drang ich in ihr Bewußtsein ein und sandte dabei beruhigende Impulse aus. Es dauerte lange, denn ich war in solcherlei Dingen nicht geübt; ich habe seit jeher eine fast panische Furcht davor emp funden, in den Geist eines anderen Menschen einzudringen, selbst, wenn es nur war, um ihm zu helfen. Es gibt Bereiche der menschlichen Seele, die niemanden etwas angehen, ganz gleich, unter welchen Umständen. Aber ich spürte auch, daß ihre Verzweiflung besonderer Natur war. Es war ein Gefühl solcher Macht, wie ich es selten zuvor gespürt hatte. Ich war sicher, daß sie sterben würde, wenn ich sie sich selbst überließ.
Ich war in Schweiß gebadet, als sich Severals Atem langsam beruhigte. Ihre Tränen versiegten ganz allmählich, und wie in einer bizarren Rückkoppelung fühlte ich plötzlich einen Hauch ihrer eigenen Verzweiflung in mir. Dann war es vorbei; sie hob den Blick, wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen und versuchte zu lächeln, brachte aber nur eine Grimas se zustande. Für den Moment hatte sie ihren Schmerz vergessen, das wußte ich. Aber er war noch da, tief in ihr, schlafend. Er würde wiederkommen. Bald.
»Was... was haben Sie getan?« fragte sie stockend.
»Nichts«, antwortete ich. »Nichts, was jetzt wichtig wäre. Ist alles wieder in Ordnung?«
Für eine halbe Sekunde erwachte der Schmerz wieder in ihren Augen, aber dann nickte sie. Trotzdem klang ihre Stimme matt und niedergeschlagen, als sie antwortete: »Ja. Ich... o mein Gott, ich habe versucht, Sie umzubringen!«