Spears schalt sich in Gedanken einen Narren. Wäre es so, wäre er kaum so weit gelangt. Hastig zog er sich tiefer hinter sein Felsversteck zurück und beobachtete die Männer.
Es waren viele; dreißig, vielleicht vierzig Mann, die aus dem Tor kamen und zum Teil am Rande des Hafenbeckens Aufstellung nahmen, zum Teil Beschäftigungen nachgingen, die er über die große Entfernung nicht genau zu erkennen vermochte.
Sein Blick wanderte nach rechts und tastete über das schwarz daliegende Wasser des Hafenbeckens.
Nach einer Weile begann sich das Bild zu verändern. Zuerst war es kaum merklich; nicht mehr als ein sanftes Zittern, das über die Wasseroberfläche glitt, aber schon nach Sekunden begannen Wellen zu entstehen, dann erschienen die ersten sprudelnden Luftblasen, und wenige Augenblicke später sah Spears den Schatten.
Obwohl er halbwegs darauf vorbereitet gewesen war, erschrak er zutiefst. Das Schiff glitt wie ein ins Gigantische vergrößerter Haifisch durch das Becken, lautlos, aber von einer Spur sprudelnder weißer Luftblasen geleitet, verharrte weniger als fünf Yards vor dem Ufer und begann zu steigen. Das Wasser kochte, Strudel und sprudelnde kleine Geysire bildeten sich, Wellen erschienen aus dem Nichts und schlugen klatschend gegen den Lavastrand, und plötzlich war das ganze gewaltige Becken von brodelnder Bewegung und dem Rauschen gewaltsam beiseite gepreßten Wassers erfüllt.
Spears Atem stockte, als die NAUTILUS auftauchte. In der Nacht zuvor, als Nemo ihn und seine Männer gezwungen hatte, ihn zu begleiten, hatte er das Schiff nur als Schatten gesehen, und schon dieses Bild war bizarr genug gewesen. Jetzt lag die NAUTILUS fast zum Greifen nahe vor ihm, grell angestrahlt von zahllosen elektrischen Lampen, die im selben Augenblick an der Höhlendecke aufgeflammt waren.
Das Schiff war ein Gigant. Spears schätzte seine Länge auf weit mehr als zweihundert Fuß, und dabei war der gigantische, halb unter der Wasserlinie liegende Rammsporn an ihrem Bug noch nicht einmal mitgerechnet.
Und es sah nicht aus wie ein Schiff.
Es sah eigentlich nichts ähnlich, was der Fregattenkapitän vorher zu Gesicht bekommen hätte. Es sah nicht einmal technisch aus. Wenn überhaupt, dann erinnerte die NAUTILUS Spears an eine absurde Mischung von Hai, Krokodil und einem vorsintflutlichen Seeungeheuer. Sein gewaltiger, buckliger Leib war übersät mit metallenen Warzen und Vorsprüngen, und die beiden gewaltigen Bullaugen-Fenster im vorderen Drittel des flachen Turmes erinnerten ihn an Augen, hinter denen ein teuflisches Feuer glomm.
Plötzlich verstand Spears, warum die wenigen Berichte, die er erhalten hatte, allesamt von einem Seeungeheuer sprachen, nicht von einem Schiff. Die NAUTILUS war aus Stahl und den Erzeugnissen einer unverständlichen Technik gefertigt, aber das änderte nichts daran, daß sie in Wahrheit ein Seeungeheuer war.
Wenn auch ein von Menschenhand geschaffenes. Aber das machte sie vielleicht nur um so gefährlicher. Der Rammsporn an ihrem Bug erschien lächerlich in einer Zeit der Kanonen und Torpedos; aber als Spears das Schiff aus nächster Nähe sah, wußte er, welch furchtbare Waffe er trotz allem darstellte. Dieser stählerne Gigant mit seinem sägezahnübersäten Leib mußte jedes noch so große Schiff, auf das er traf, glattweg in zwei Teile spalten.
Spears rief sich in Gedanken zur Ordnung und schmiegte sich enger an den Felsen. Die NAUTILUS glitt nahezu lautlos auf das Ufer zu, verharrte einen Moment und drehte sich dann mit einer Eleganz, die ihrer Größe und ihrem auf den ersten Blick grobschlächtigen Äußeren Hohn sprach, auf der Stelle, bis ihr Turmaufbau mit einem hörbaren Klicken in eine Haltevorrichtung einschnappte, die am Ende des spinnenbeinigen Landungssteges angebracht war. Das Riesenschiff schaukelte leicht. Wasser perlte von seiner blauschwarzen Panzerhaut, und plötzlich öffnete sich an der Schmalseite seines Turmes eine runde Luke.
Spears unterdrückte im letzten Moment einen zornigen Schrei, als er den Mann erkannte, der gebückt aus dem Inneren des Schiffes trat und dann mit schnellen Schritten über den Laufsteg an Land ging. Nemo! Niemand anderes als Kapitän Nemo selbst, der Mann, der am Tode seines Bruders und zahlloser anderer unschuldiger Männer Schuld trug. Für die Dauer eines Herzschlages mußte Spears mit aller Gewalt gegen das Bedürfnis ankämpfen, einfach hinter seiner Deckung hervorzuspringen und sich auf die schmalschultrige Gestalt zu stürzen.
Dann war es vorbei. Spears Herzschlag beruhigte sich wieder, und der rasende Zorn in seinem Inneren machte kalter Überlegung Platz. Selbst, wenn es ihm gelänge, Nemo zu erreichen - er war unbewaffnet und würde in Sekundenschnelle überwältigt sein. Und er wollte auch nicht Nemos Tod.
Nicht nur. Wenn er Nemo vernichtete, das wußte er, dann würde ein anderer kommen und seinen Platz einnehmen. Nein - er mußte dieses ganze Rattennest ausräuchern, die unter seeische Festung und die NAUTILUS zerstören.
Und er wußte auch schon, wie er es anfangen würde.
Lautlos wartete er, bis Nemos Gestalt in der Menge der anderen verschwunden war. Aus dem Schiff kamen noch mehr Männer, und andere gingen an Bord, Kisten oder große, in Segeltuch eingeschlagene Ballen mit sich tragend, und nach einer Weile öffnete sich im hinteren Teil des Schiffes eine stählerne Klappe, dann begann der Kran zu summen, und Kisten auf Kisten verschwanden im schier unersättlichen Leib des Bootes.
Spears wartete beinahe eine Stunde, und selbst, als die Lade arbeiten beendet waren und sich die Männer wieder zurückgezogen hatten, blieb er noch lange hinter seinem Felsen, lauschte und beobachtete und wartete, bis er ganz sicher war, allein zu sein.
Dann erhob er sich hinter seiner Deckung, huschte geduckt zum Ufer und ließ sich, ohne zu zögern, in das eiskalte Wasser sinken.
Er verursachte nicht das geringste Geräusch, als er auf den dunklen Leib des Riesenschiffes zuschwamm...
Die Lichter bewegten sich wie ein Schwärm kleiner feuriger Leuchtkäfer durch die Nacht, einen großen, doppelt geschwungenen Kreis am Ufer des Sees bildend und manchmal in einer sonderbar rhythmisch wirkenden Bewegung auf und ab hüpfend. Das still daliegende Wasser von Loch Firth warf ihren Schein gebrochen zurück, aber anders, als normal gewesen wäre, vertrieb das gelbrote Licht die Dunkelheit nicht von der Oberfläche des Sees. Die winzigen Lichtpunkte, die sich auf dem Wasser spiegelten, wirkten wie gelb hineingestanzte Löcher in einer Masse aus verflüssigter Finsternis.
Ich war sicher, daß dieser Eindruck nicht nur meiner überreizten Phantasie entsprang; oder dem, was Several mir erzählt hatte. Irgend etwas ging von diesem See aus. Etwas Finsteres und Böses und - und das war vielleicht das Schlimmste - Bekanntes. Ich konnte das Gefühl nicht einordnen. Es gelang mir nicht, es mit irgend etwas zu assoziieren, aber ich wußte einfach, daß ich es schon einmal gespürt hatte; vor nicht einmal allzulanger Zeit. Und ich wußte, daß es keine angenehme Erinnerung sein würde.
»Was machen sie da?« flüsterte ich .
Several, die einen halben Schritt neben mir im Schutz desselben Busches lag, ballte in stummem Zorn die Hände zu Fäusten. »Sie beten«, antwortete sie. »Jedenfalls nennen sie es so. Sie flehen den Tag herbei, an dem er aus dem Meer kommen soll.«
»Und dann?« fragte ich.
Severals Gesicht verfinsterte sich noch weiter. »Sie werden alle sterben«, sagte sie. »Er hat ihnen das Gelobte Land versprochen, ewiges Leben und unermeßlichen Reichtum und Macht. Aber ich weiß, daß es eine Lüge ist. Sie werden alle sterben, genau wie meine Jennifer.«
Besorgt sah ich sie an, aber in ihrem Gesicht war nicht die geringste Regung zu erkennen. Überhaupt war sie fast unnatürlich ruhig und gefaßt, bedachte ich den seelischen Druck, unter dem sie stand. Trotzdem - oder vielleicht gerade deshalb - mußte ich vorsichtig sein.
Seit dem Moment, in dem ich sie auf so wenig erbauliche Weise kennengelernt hatte, waren mehr als vier Stunden vergangen. Im Osten begann sich der Himmel bereits wieder aufzuhellen, und wir waren etwa drei Meilen von der Stelle entfernt, an der ich die Küste erstiegen hatte.