Etwas tastete nach ihren Händen, glitt beinahe sanft über die Stricke, die ihre Gelenke aneinander banden - und zerriß sie. Dann war der Widerstand verschwunden, das unsichtbare Etwas, das sie gerettet und befreit hatte, versank wieder in der Tiefe des Sees, und sie spürte wieder die saugende Kraft des eisigen Wassers.
Instinktiv warf sie sich nach vorn, machte mit Armen und Beinen ungeschickte Schwimmbewegungen und atmete tief und gierig ein. Der See drehte sich vor ihren Augen wie in einem irrsinnigen Tanz, die schwarzen Regenwolken am Himmel schienen zu kochen, und die Kälte betäubte sie fast, aber irgendwo in ihrem halb erloschenen Bewußtsein hatte sich der Gedanke festgesetzt, daß sie gerettet war, daß er ihr Opfer nicht wollte. Er hatte sie berührt und begutachtet und abgelehnt, und sie würde weiterleben, wenn es ihr gelang, das Ufer zu erreichen, bevor die Kälte sie vollends lahmte.
Allmählich fanden ihre Muskeln wie von selbst in den gewohnten Rhythmus der Schwimmbewegungen. Sie bewegte sich schneller und atmete gezwungen ruhig ein und aus. Das Ufer kam näher, zwar langsam, aber sichtbar. Noch hundert dieser unendlich mühsamen Schwimmzüge, und sie war gerettet.
Der Wind frischte auf, als sie noch zwanzig Yards vom Ufer entfernt war. Das Wasser kräuselte sich stärker, und plötzlich fuhr eine Bö wie eine unsichtbare Faust unter die Wolken und zerriß die schwarze Decke, die sie über dem See gebildet hatten. Groß und rund wie ein bleiches, pupillenloses Riesenauge stand der Mond am Himmel.
Jennifer begriff den grausamen Irrtum, dem sie erlegen war, erst, als sie die Bewegung unter sich spürte und das Wasser vor ihr zu schäumen begann. Aber ihr blieb nicht einmal mehr Zeit, zu schreien.
Es waren die gleichen, unmenschlichen starken Hände, die sie gerettet hatten, die sie jetzt in die Tiefe zogen.
Vor den Fenstern des Hauses am Ashton Place dämmerte der Morgen. Der große, von einer doppelten Reihe sorgsam gestutzter Bäume gesäumte Platz in einem der vornehmsten Londoner Wohnviertel lag noch verschlafen da. Hinter einigen Fenstern brannte bereits Licht, meistens in den unteren, halbwegs im Keller liegenden Räumen, in denen die Dienerschaft das Frühstück vorbereitete oder einfach noch eine Weile plauderte, bis ihre Herrschaften erwachten und der gewohnte Tagesablauf beginnen würde. Hier und da kräuselte sich dünner grauer Rauch aus den Kaminen, aber sonst zeigte sich nirgends eine Spur von Bewegung. Über dem sorgsam gekehrten Kopfsteinpflaster des Platzes lag ein klammer Nebelhauch wie ein letzter Gruß der Nacht. Nicht einmal die Tauben, die normalerweise als erste mit ihrem unablässigen Gurren und Schimpfen die Sonne begrüßten, waren an diesem Morgen zu sehen. Es war, als hätte der Tag verschlafen.
Das leise Geräusch der Tür drang wie ein Laut aus einer anderen Welt in meine düsteren Gedanken und ließ mich aufsehen. Es war Mary, meine Haushälterin. Sie sah so übernächtigt aus, wie ich mich fühlte, aber auf ihren bleichen Zügen lag ein Lächeln, und der Anblick der dampfenden Kaffeekanne, die sie zusammen mit zwei Tassen und einer silbernen Zuckerschale auf einem Tablett vor sich hertrug, hob meine Stimmung wenigstens um eine Kleinigkeit.
Ich raffte mich dazu auf, ihr Lächeln zu erwidern, ließ die Gardine fahren und trat vom Fenster zurück. Erst jetzt fiel mir auf, wie kühl es im Zimmer war. Obwohl der Kalender erst Ende September anzeigte, wurden die Nächte bereits empfindlich kalt, und das Feuer im Kamin war heruntergebrannt, während ich am Fenster gestanden und hinausgestarrt hatte. Fröstelnd ging ich vor dem fast erloschenen Kamin in die Knie, legte einen neuen Scheit in die Glut und rieb die Hände ineinander.
»Sie haben wieder nicht geschlafen, Robert«, sagte Mary vor wurfsvoll. Porzellan klirrte, und als ich aufstand und mich herumdrehte, war sie gerade dabei, die zweite Tasse mit dampfend heißem Kaffee zu füllen.
»Doch«, log ich. »Ich bin nur früh aufgestanden.« Ich setzte mich, griff nach der Tasse und nippte vorsichtig an dem heißen Getränk. Mary ließ sich auf den zweiten Stuhl vor dem kleinen Tischchen nieder und sah mich mit einer Mischung aus Vorwurf und Sorge an. Ich war froh, daß sie da war. Mary Winden war viel mehr für mich als eine Haushälterin oder ein weiblicher Majordomus. Sie war einer der ganz wenigen Menschen, für die ich Zuneigung empfand und die dieses Gefühl erwiderten.
»Sie haben kein Auge zugetan«, sagte sie streng. »Das Licht hat die ganze Nacht gebrannt...«
»Ich schlafe oft bei Licht«, sagte ich, aber Mary fegte meine Worte mit einer fast ärgerlichen Handbewegung zur Seite.
»... und ich habe während der ganzen Nacht Ihre Schritte gehört«, fuhr sie unbeeindruckt fort. »Sie bringen sich um, Robert, ist Ihnen das klar?«
»Und wenn«, murmelte ich. »Ich glaube nicht, daß es ein großer Verlust für die Menschheit wäre.« Ich lächelte schief, als ich sah, wie es in Marys Augen aufblitzte, beugte mich vor und nippte wieder an meinem Kaffee. Das Getränk war so heiß, daß ich seinen Geschmack nicht einmal spürte, und ich hatte in den letzten Tagen zu viel davon in mich hineingeschüttet, als daß er noch eine irgendwie geartete belebende Wirkung gehabt hätte.
»Macht es Ihnen großen Spaß, sich in Selbstmitleid zu ergehen?« fragte Mary plötzlich. »Oder ist es einfach nur Feigheit?«
»Wie... meinen Sie das?« fragte ich verwirrt. Marys plötzliche Aggressivität überraschte mich. Ich hatte sie als zwar energische, aber doch durch und durch sanftmütige Frau kennengelernt, über deren Lippen kaum je ein böses Wort kam.
»Das wissen Sie sehr gut, mein Junge«, sagte sie scharf. »Seit nahezu zwei Wochen verbarrikadieren Sie sich in diesem Zimmer, leben nur von Kaffee und Tabletten und richten sich selbst zugrunde.« Mit einer zornigen Geste deutete sie auf die Bücher und Manuskripte, die sich in fast meterhohen Stapeln auf dem Boden, dem Schreibtisch und jedem nur erdenklichen freien Fleck gesammelt hatten.
»Ich weiß nicht, was Sie da tun«, fuhr sie fort, »aber was immer es ist, Sie werden es nicht zu Ende führen, wenn Sie sich vorher umbringen.«
»Was ich tue?« Ich leerte meine Tasse und hob abwehrend die Hand, als Mary nachschenken wollte. »Ich suche, Mary«, sagte ich. »Ich suche nach einem Hinweis, einer Möglichkeit...«
»Suchen Sie sich ein Bett und schlafen Sie sechsunddreißig Stunden aus«, fiel mir Mary ins Wort. »Vielleicht haben Sie dann mehr Erfolg.«
Ich starrte sie an, aber mit Augen, die seit Tagen kaum mehr Schlaf gefunden haben und vor Müdigkeit ständig von selbst zufallen wollen, starrt es sich schlecht, und Mary hielt meinem Blick gelassen stand. Ich konnte ihr nicht einmal böse sein. Sie meinte es gut, und sie wußte ja nicht, wonach ich suchte, und warum.
Nun, was das wonach anging, wußte ich es selbst nicht einmal. Einen Hinweis. Irgendeine versteckte Andeutung, vielleicht nur ein Wort, dessen Bedeutung mir bis jetzt entgangen war.
»Sie verstehen das nicht, Mary«, murmelte ich.
»Glauben Sie?« fragte sie gereizt. »Sie scheinen zu glauben, daß in meiner Brust ein Stein ist, wo das Herz sein sollte. Wofür halten Sie mich - für blind oder herzlos? Sie sind seit zwei Wochen zurück, und seit der gleichen Zeit sind Howard und Rowlf verschwunden. Und warum auch immer, Sie geben sich die Schuld daran.«
Ich verzichtete auf eine Antwort. Es wäre ziemlich lächerlich gewesen, Mary belügen zu wollen. Aber sie kannte nur einen Teil der Wahrheit.
Sie wußte weder von den GROSSEN ALTEN noch von dem schrecklichen Erbe, das mein Vater mir nebst einigen Millionen Pfund Sterling und einer weißen Strähne im Haar hinterlassen hatte. Und das war auch gut so. Bisher war jeder - fast jeder -, der diesen Teil meines Erbes kennengelernt hatte, auf die eine oder andere Art und Weise zu Schaden oder gar ums Leben gekommen.