Der Matrose reagierte mit unglaublicher Schnelligkeit. Aber Spears war noch schneller. Mit einer einzigen, zornigen Bewegung riß er den Mann aus dem Gleichgewicht und zu sich herab und schlug ihm die Handkante gegen den Hals. Der Matrose sank in seinen Armen zusammen und erschlaffte.
Spears schleifte ihn ächzend in die Nische, die ihm selbst als Versteck gedient hatte, ließ ihn zu Boden sinken und überzeugte sich hastig davon, daß er auch wirklich nur bewußtlos und nicht ernsthaft verletzt war. Dann band er dem Mann den Gürtel ab, fesselte seine Hände und suchte eine einigermaßen saubere Stelle des Putzlappens, die er als Knebel verwenden konnte. Schließlich öffnete er die Werkzeugkiste und nahm einen armlangen Schraubschlüssel heraus, der eine passable Keule abgab. Er hatte nicht vor, irgend jemanden zu verletzen oder gar zu töten, aber er würde sein Leben so teuer wie möglich verkaufen, sollte er gestellt werden. Spears gab sich keinen Illusionen hin. Seine Chancen, die NAUTILUS lebend zu verlassen, waren gleich Null. Das Fehlen des Mannes würde auffallen, aber mit etwas Glück würde die Zeit bis dahin reichen.
Und wenn nicht... nun, wenn nicht, brauchte er sich keine Gedanken mehr über seine Zukunft zu machen.
Gebückt, die rechte Hand um den Schraubenschlüssel gekrampft und zu allem entschlossen, verließ Spears den Maschinenraum und machte sich auf die Suche nach der Brücke des Schiffes. Dort würde er Nemo finden, und das war alles, was noch für ihn zählte.
Wie ein Stein wurde ich in die Tiefe gezerrt! Rings um mich herum schien das Wasser zu kochen; glitzernde Luftblasen und graubrauner Schlamm, der in brodelnden Wogen vom Grunde des Sees hochgewirbelt wurde, nahmen mir die Sicht, und ich konnte im letzten Moment den instinktiven Impuls unterdrücken, den Mund zu öffnen und nach Luft zu schnappen. Die Hand, die sich um mein Fußgelenk gekrallt hatte, zerrte mich mit unbarmherziger Kraft in die Tiefe, und für einen Moment hatte ich den Eindruck, etwas Gewaltiges, Finsteres vor mir durch das Wasser schießen zu sehen.
Blindlings trat ich aus, traf irgend etwas Schwammig-Weiches und kam frei. Aber nur für einen Moment. Dann klammerte sich die Hand ein zweites Mal um meinen Fuß, mit einem Ruck, der mir fast die Beine aus den Gelenken und mich abrupt drei, vier Yards weit in die Tiefe riß. Der Schmerz ließ mich aufschreien, und plötzlich hatte ich den Mund voller Wasser, und meine kostbare Atemluft stieg in glitzernden Blasen nach oben.
Wie von Sinnen begann ich um mich zu treten, traf erneut auf Widerstand und kam frei. Wieder schoß ich zur Wasseroberfläche hinauf - und wieder packten mich diese furchtbar starken Hände, Sekunden, ehe ich oben war, und zerrten mich mit einem Ruck in die Tiefe. Ich spürte, wie meine Kräfte zu erlahmen begannen. Flüssiges Feuer füllte meine Lungen. Und in meinem Schädel war plötzlich ein furchtbares, immer stärker werdendes Dröhnen und Hämmern. Verzweifelt angelte ich nach dem Kautschukschlauch des Atemgerätes, nahm ihn zwischen die Zähne, schluckte das eiskalte Wasser, das meinen Mund füllte, herunter und atmete tief ein. Wenigstens wollte ich es. Aber aus dem Schlauch kam keine Luft. So sehr ich auch sog, der rettende Sauerstoffstrom blieb aus!
Panik begann meine Gedanken zu verwirren. Wer oder was immer mein Gegner war, er dachte nicht daran, sich zum Kampf zu stellen, sondern beschränkte sich darauf, mich von der rettenden Luft fernzuhalten und die Natur den Rest erledigen zu lassen. Meine Lungen schmerzten unerträglich. Vor meinen Augen rotierten grellbunte Feuerräder, und ich spürte, wie meine Kräfte rasend schnell nachließen. Irgend etwas Finsteres, Mächtiges begann sich hinter meinen Gedanken aufzubauen. Hier also, fünf Yards unter der Wasseroberfläche, würde mein Leben ein unrühmliches Ende finden, nur wegen eines verklemmten Ventils oder eines defekten Schalters, den...
Hätte ich noch die Zeit dazu gehabt, hätte ich mich selbst geohrfeigt. So nutzte ich das letzte bißchen Kraft, das mir verblieben war, um die Hand zu heben und den kleinen Messingschalter an meinem Helm umzulegen, den mir Nemo gezeigt hatte.
Und aus dem Kautschukschlauch zwischen meinen Zähnen ergoß sich ein Strom herrlich kühlen, belebenden Sauerstoffs.
Trotzdem behielt ich die Nerven. Wer oder was auch immer unter mir war - ich war ziemlich sicher, es eher mit einem »was« zu tun zu haben als mit einem »wer« -, es war ein Wesen, dessen ureigenstes Element das Wasser war. Ich durfte keinen offenen Kampf riskieren, um so weniger, als es hier nicht allein um mein Leben ging. So strampelte ich noch einige Sekunden weiter wie wild mit den Beinen, warf mich herum und schlug wie in Agonie ins Wasser, bis ich meine Bewegungen immer langsamer und müder werden ließ. Schließlich hörte ich ganz auf, mich zu regen.
Ich muß eine ziemlich perfekte Wasserleiche abgegeben haben, als ich diesmal zur Oberfläche hinauftrieb, denn der unheimliche Angreifer beschränkte sich darauf, mich beinahe sanft an den Beinen zu berühren und ganz sachte wieder herabzuziehen. Es war ein unbeschreiblich ekelhaftes Gefühl - seine Hände fühlten sich schwammig und weich und kalt wie die eines Toten an, aber ich beherrschte mich weiter und ließ mich treiben, Arme und Beine pendelnd wie eine Leiche. Daß meine rechte Hand wie zufällig zum Gürtel glitt und am Griff des zweischneidigen Tauchermessers hängenblieb, schien meinem Gegner nicht aufzufallen.
Langsam sanken wir tiefer, ins eiskalte, klare Wasser des Sees hinaus. Obwohl über mir Nacht und das Wasser so schwarz wie Tinte war, konnte ich plötzlich sehen, und der Anblick war so phantastisch, daß ich für einen Moment sogar die Gefahr vergaß, in der ich schwebte.
Unter mir, eine viertel Meile westlich und zahllose Yards tie fer, lag eine Stadt. Oder das, was einmal eine Stadt gewesen war. Ich sah zerbrochene Säulen, niedergestürzte Wände und kühn geschwungene Bögen, zerfallene Arkadengänge und die Reste bizarrer, ehedem sicherlich riesiger Gebäude, und alles war von einem unheimlichen, blaßgrünen Schimmer überla gert, ein Licht, das nicht von dieser Welt war und das mir trotzdem auf grausige Weise bekannt vorkam. Und dann...
Es war nur ein Augenblick, nur ein Bruchteil einer Sekunde, aber ich war ganz sicher, einen Menschen zu sehen. Eine Frau, jung, schlank, dunkelhaarig, vollkommen nackt und ohne irgendwelche technische Gerätschaften, die ihr das Atmen ermöglichten! Elegant wie ein riesiger blasser Fisch tauchte sie hinter einer zerborstenen Säule auf und verschwand gleich darauf im Inneren eines noch halbwegs erhaltenen Gebäudes. Fünfhundert Fuß unter Wasser.
Ein unsanfter Ruck an meinem rechten Bein riß mich abrupt in die Wirklichkeit zurück. Vorsichtig, um nicht durch eine Bewegung, die eine Wasserleiche kaum hätte ausführen können, aufzufallen, drehte ich mich herum und starrte an mir herunter. Ich war nicht einmal sehr überrascht, als ich sah, was mich da gepackt und in die Tiefe gezerrt hatte. Es war kein Mensch, sondern ein Wesen, das den gräßlichen Shoggoten-Monstern ähnelte, mit denen es Spears und ich in den Abwässerkanälen Aberdeens zu tun bekommen hatten. Aber anders als sie wirkte es weitaus eleganter, irgendwie... fertiger.
Sein Körper war größer als der eines ausgewachsenen Menschen, aber wo die Bestien, die Spears und mich attackiert hatten, halbfertige verkrüppelte Beinchen und Larvenschwanz trugen, hatte es gewaltige, flossenbewehrte Froschbeine. Sein Schwanz war abgefallen, und dicht unter dem riesigen, zahnbewehrten Maul wuchsen zwei muskulöse Arme hervor, mit denen es mich wie einen Sack hinter sich herschleifte, dicht über den mit Lavatrümmern übersäten Seeboden und auf einen klaffenden, finsteren Riß zu.
Es kostete mich mehr als nur Überwindung, weiterhin den Toten zu spielen, als die Bestie plötzlich meinen Fuß losließ, sich umdrehte und ich ihren Schädel sehen konnte. Er wirkte gewaltig, abstoßend und monströs - und dort, wo bei den Monstern in Aberdeen eine schwarze konturlose Fläche gewesen war, grinste mich die diabolische Karikatur eines menschlichen Gesichts an: ein gigantisches, gefletschtes Maul unter einem doppelt senkrechten Nasenschlitz, darüber zwei beinahe faustgroße, gelbleuchtende Augen hinter durchsichtigen Nickhäuten. Und jetzt, als es näher kam, sah ich auch noch mehr Unterschiede zu den mir bekannten Shoggoten-Monstern. Sein Leib war nicht glatt, sondern seltsam gerippt und in der Mitte eingeengt, und es gab sogar die Andeutung eines Halses. Es sah aus wie...