»Wie lange noch?«
Die Stimme, die hinter Nemo erklungen war, rief unheimliche Echos in dem großen Salon hervor und fügte den namenlosen Gespenstern in der Dunkelheit vor den Bullaugen weitere Schrecken hinzu. Nemo schauderte und wandte rasch den Blick vom Fenster.
»Wir sind da«, antwortete er. »Sieh.« Seine Hand wies hinaus. Die beiden grellweißen Lichtbahnen der Scheinwerfer waren nicht mehr leer. An ihrem Ende, nur noch wenige hundert Yards entfernt, hatte glitzernder schwarzer Fels das Wogen der Wassermassen abgelöst; eine gewaltige, scheinbar endlos weit in die Höhe strebende Wand aus Lava und Sedimentgestein, mit Algen und Tang und großen Büschen sonderbar farbloser Tiefseepflanzen bewachsen. Nemo betätigte ein paar weitere Schalter. Im ersten Moment war keine Reaktion zu bemerken, aber dann änderte sich etwas im bis dahin gleichmäßigen Pochen der Maschinen; das Schiff schwankte einen Moment und fand dann in sein gleichmäßiges Gleiten zurück. Aber es war langsamer geworden. Sehr viel langsamer.
Im Zentrum des Lichtscheines, dort, wo sich die beiden gewaltigen Strahlen kreuzten, erschien eine Öffnung. Zuerst schien es nur ein Spalt, aber als die NAUTILUS näherkam, erkannte man, daß es sich in Wahrheit um einen gewaltigen, klaffenden Riß im Felsen handelte, den Beginn eines Stollens, der so tief in den Fels hineinführte, daß sich das Licht der Scheinwerfer verlor, ohne auf ein weiteres Hindernis zu stoßen. Die NAUTILUS verlor rasch an Geschwindigkeit. Als sie den Anfang des Tunnels erreicht hatte, war das gewaltige Schiff kaum mehr schneller als Fußgänger. Trotzdem drosselte Nemo seine Geschwindigkeit noch weiter, bis der gigantische stählerne Hai nahezu reglos auf der Stelle schwebte.
»Du willst es wirklich tun?« Nemo hörte deutlich den Unterton von Sorge, der in der Stimme mitschwang. Trotzdem hantierte er fast eine Minute weiter an seinen Kontrollen, bis er sicher war, daß sich das Schiff nicht mehr bewegte und reglos vor der Felswand hing, mit seinen gewaltigen Schrauben den Druck der Strömung ausgleichend. Das Pochen der Maschinen klang jetzt fast wütend.
Nemo wandte sich um und sah zu der Gestalt neben sich hoch.
»Uns bleibt keine andere Wahl«, murmelte er. »Ich täte es nicht, hätten wir mehr Zeit, aber so...« Er sprach nicht weiter, sondern ließ den Satz unbeendet in der Luft hängen, aber der Mann neben ihm schien auch so zu wissen, was er sagen wollte, denn er nickte und stützte seine Hände auf der Kante von Nemos Kontrollpult auf.
»Ob er es geschafft hat?« murmelte er.
»Robert?« Nemo zuckte mit den Achseln, lächelte plötzlich und nickte. »Sicher. Wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was du mir über ihn erzählt hast...« Er schüttelte den Kopf und starrte einen Moment auf den Schacht, der wie ein gigantisches steinernes Maul in der Wand vor der NAUTILUS klaffte. »Er erinnert mich an seinen Vater«, murmelte er. »Die beiden sind sich ähnlicher, als ich dachte.«
Nemo sah ihn noch einen Moment nachdenklich an, dann wandte er sich mit einem Ruck seinen Kontrollen zu. Wieder begannen die Maschinen der NAUTILUS zu dröhnen, als er mit raschen, fast zornig wirkenden Bewegungen eine Anzahl Schalter auf seinem Pult umlegte.
Wenige Augenblicke später glitt das gigantische Unterwasserschiff in den Felsspalt hinein. Nemo hörte, wie sich die Gestalt neben ihm umwandte und aus dem Salon ging, aber er sah ihr nicht nach, sondern starrte verbissen aus dem Fenster aus fingerdickem Glas. Die beiden Scheinwerferstrahlen glitten über glitzernden Fels und scharfkantige Lava, rissen Schemen aus noch dunklerem Schwarz aus der Finsternis und tasteten über gewaltige Risse und Schlünde, die tiefer in den Leib der Erde hineinführten. Aber an ihrem Ende war noch immer Dunkelheit.
Es überstieg fast meine Kräfte, aus dem Schacht herauszuklettern, denn es hatte weder eine Leiter noch Steigeisen oder sonst eine Möglichkeit gegeben, an der gemauerten Wand hinaufzukommen - außer der, mich mit den Füßen auf der einen Seite und dem Rücken auf der anderen abzustützen und wie ein Bergsteiger in einem Kamin Fuß über Fuß hinaufzuklettern. Wer einmal versucht hat, sich auf diese Weise nur fünf Minuten im Türrahmen zu halten, weiß, wovon ich rede. Ich war so erschöpft, daß ich minutenlang liegenblieb und keuchend nach Atem rang, ehe ich überhaupt wieder die Kraft fand, meine Umgebung bewußt wahrzunehmen. Mühsam stemmte ich mich hoch, löste mit zitternden Fingern die Verschlüsse meines Taucherhelmes und schob das klobige Messingding nach oben.
Ich war in einem Raum, der sich schwer mit wenigen Worten beschreiben ließ - einer sonderbaren Mischung aus Keller, Altarraum und Rumpelkammer. Unmittelbar vor dem fünfeckigen Schacht, aus dem ich hervorgekommen war, stand ein klobiges schwarzes Ding, das ein kleinerer Bruder des Altars unter mir zu sein schien, und der Boden, auf dem ich lag, war mit kabbalistischen Zeichen und unverständlichen Runen übersät. Neben dem Altar stand ein Paar verrosteter Kerzenständer von mehr als Manneshöhe, und auf der anderen Seite des Raumes führte eine gemauerte Treppe zu einer Tür zehn oder fünfzehn Fuß über mir, direkt unter der Decke des Ziegelsteinge wölbes.
Aber es gab auch überall deutliche Anzeichen von Verfall und Alter - von der Decke hingen Spinnweben wie schwere graue Vorhänge, überall in Ritzen und Nischen hatte sich Staub gesammelt, der von der Feuchtigkeit zu einer schmierigen grauen Schicht zusammengebacken worden war, und unter der Treppe stapelten sich Kisten und Fässer und verrottete Bündel in heillosem Durcheinander. Und auf dem Boden - waren frische Fußspuren!
Ich vergeudete einige weitere Minuten damit, mich gründlich umzusehen - ohne mich indes von der Stelle zu rühren -, dann streifte ich die Schwimmflossen ab, befreite mich aus dem Haltegeschirr des Oxygentanks und ging, sorgsam darauf bedacht, meine Füße nur in die vorhandenen Spuren zu setzen und so meine Anwesenheit nicht gleich zu verraten, sollte jemand zufällig hier herunterkommen, auf die Treppe zu. In dem Tohuwabohu daneben fand sich rasch ein Versteck für meine Ausrüstung. Ich behielt nur das Messer, als ich mich umwandte und die Treppe hinauflief.
Fortuna war weiter auf meiner Seite, denn die Tür war nicht verschlossen. Dafür quietschte sie gotteserbärmlich, als ich vorsichtig die Klinke hinunterdrückte und durch den entstandenen Spalt lugte.
Vor mir lag ein niedriger, fensterloser Gang mit gewölbter Decke, der nach knapp zehn Schritten vor einer weiteren, nur angelehnten Tür endete, durch deren Ritzen der flackernde Lichtschein einer Fackel fiel. Ich vernahm gedämpftes Stimmengemurmel, dann ein helles, plötzliches Klirren, dem ein rauhes Lachen und das wütende Keifen einer Frauenstimme folgten. Ich zögerte einen Moment, sah mich noch einmal aufmerksam im Keller um und schob die Tür schließlich ganz auf, als ich keinen weiteren Ausgang zu entdecken vermochte. Die Tür quietschte noch lauter. Eigentlich war es ein Wunder, daß man das Geräusch in dem angrenzenden Raum nicht hörte. Geduckt schlich ich durch den Gang, die Hand auf das Messer gelegt. Der flüchtige Optimismus, der von mir Besitz ergriffen hatte, als ich aus dem Wasser stieg, bekam einen gehörigen Dämpfer, als ich die Tür an seinem Ende erreichte und durch den Spalt sah. Der Raum dahinter war womöglich noch schmutziger als der untere Keller, hatte aber gleich drei Ausgänge und ein - wenn auch vergittertes Fenster auf der einen Seite. Auf einer Anzahl umgedrehter Kisten, die als Tisch- und Stuhlersatz dienten, saßen drei Männer und eine Frau, zwei davon mit dem Rücken zu mir, die anderen so, daß sie mich sehen mußten, wenn ich auch nur die Nase aus der Tür steckte.