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Während wir durch den unterseeischen Stollen zurückschwammen, versuchte ich meine Herzschläge zu zählen, um wenigstens einen ungefähren Anhaltspunkt für die Zeit zu aben, die mir verblieb, bis mein Luftvorrat erschöpft war. Zu meiner Überraschung schlug mein Puls weniger als vierhundertmal - was in Anbetracht der großen körperlichen Anstren gung, der ich mich ausgesetzt sah, kaum fünf Minuten sein konnten -, bis wir die Höhle und kurz darauf das offene Wasser des Sees erreichten. Selbst wenn ich auf dem Herweg die doppelte Zeit gebraucht hatte, verblieben mir somit noch gute fünfzehn Minuten Atemluft. Wenn Dagon nicht vorher auf die Idee kam, mich in einen Zustand zu versetzen, in dem ich mit atembarer Luft nicht mehr viel anfangen konnte...

Im Moment jedenfalls dachte er noch nicht daran, mich zu Shoggoten-Futter zu verarbeiten, sondern schwamm an meine Seite, berührte mich an der Schulter und deutete mit dem anderen Arm in die Tiefe, auf den grünleuchtenden Grund des Sees. Ich nickte. Es hätte mich gewundert, wenn Dagon ein anderes Ziel als die versunkene Stadt gehabt hätte.

Der Wasserdruck begann sich unangenehm bemerkbar zu machen, als wir tiefer kamen: in meinen Ohren war plötzlich ein schmerzhaftes Rauschen, und ein unsichtbarer Ring legte sich um meine Brust und zog sich ganz langsam, aber unbarmherzig zusammen.

Aber als wir uns der versunkenen Stadt näherten, bemerkte ich von alledem kaum noch etwas.

Der Anblick war schlichtweg phantastisch. Was beim ersten Male den Eindruck einer Ruinenlandschaft auf mich gemacht hatte, entpuppte sich beim Näherkommen als eine gewaltige, zu großen Teilen noch vollends unversehrt erhaltene Anlage, die in mir Assoziationen zu Atlantis und Lemuria wachrief und mich selbst die bedrohliche Lage, in der ich mich befand, vergessen ließ.

Die Stadt hatte die Größe einer mittleren Ortschaft, und sie war nach Regeln einer Architektur erbaut, wie ich sie niemals zuvor gesehen hatte. Das Erstaunlichste war, daß es eine menschliche Architektur gewesen sein mußte, denn die Proportionen und Linien waren, obzwar fremd und ungewohnt, doch nicht die unangenehmen bizarren Linien der GROSSEN ALTEN, und auch die Maße der Fenster, Treppen und Türen entsprachen in etwa denen, die menschliche Bewohner bevorzugt hätten.

Es gab gewaltige, quaderförmige Blöcke, zu regelmäßigen Straßen geordnet und manchmal mit spitzen, jetzt jedoch aus nahmslos zerborstenen Türmchen versehen, dazwischen Pyramiden, Kegelstümpfe und schlanke, an Muscheln erinnernde Gebilde, die mit grazilen Brücken ohne Geländer miteinander verbunden waren. Wir schwammen über einen phantastischen Park aus Wasserpflanzen, dann über eine Ansammlung kleiner kuppeiförmiger Gebäude ohne Fenster oder Türen, dann wieder zwischen tangverkrusteten Säulen und gewaltigen, terrassenförmigen Anlagen hindurch.

Dann überquerten wir das Loch.

Mir fiel kein besserer Ausdruck ein, den schwarzen, wie ausgestanzt wirkenden Pfuhl zu beschreiben, der jäh unter uns aufklaffte. Ein Strom eisigen Wassers ließ mich schaudern, und als ich in die Tiefe blickte, glaubte ich, eine dunkelquirlende Masse zu erkennen, schwarze Dinge, die wie bizarre Kaulquappen hin und her schössen und immer wieder mit grotesk wirkenden Hüpfern Höhe zu gewinnen versuchten, stets aber von irgend etwas zurückgesaugt wurden. Der Schacht war gewaltig. Ich schätzte seinen Durchmesser auf mindestens zweihundert Yards. Seine Tiefe war nicht einmal zu erahnen. Ich atmete innerlich auf, als wir ihn überquert hatten und wieder fester Boden unter uns war.

Plötzlich deutete Dagon auf eine steinerne Pyramide etwa hundert Yards unter und vor uns und begann rasch in die Tiefe zu gleiten. Ich folgte ihm, obwohl er sich nicht einmal die Mühe machte, zurückzublicken. Es hätte auch wenig Sinn gehabt, hätte ich versucht, ihm davonzuschwimmen. Und mein Luftvorrat war zu wertvoll, um ihn bei einem sinnlosen Fluchtversuch zu vergeuden. Es mochte sein, daß ich ihn noch bitter nötig hatte.

Als wir näherkamen, sah ich mehr Einzelheiten des Pyramidenhauses. Anders als die mir bekannten Pyramiden hatte sie fünf Seiten, was einen erstaunlichen optischen Effekt ergab, und auch das mächtige Tor, auf das Dagon zuschwamm, war fünfeckig, wie eine etwas verunglückte Bienenwabe, und nicht ganz im Lot. Vermutlich war es nicht ganz einfach, hier unten eine Wasserwage zu benutzen.

Dunkelheit hüllte uns ein, als wir in die Pyramide eindrangen, und für eine Weile sah ich Dagon nur als schwarzen Schatten vor mir. Dann erschien uns ein blaßgrünes Leuchten, und wenige Augenblicke später fand ich mich in einem weitläufigen, fünfeckigen Saal wieder, dessen Wände von Massen der grünen Leuchtalgen überwuchert waren.

Dagon deutet nach oben, stieß sich mit einer eleganten Bewegung ab - und durchbrach die Wasseroberfläche, die wie ein grünsilberner Himmel zwei Yards über meinem Kopf hing. Ich wollte ihm folgen, aber in diesem Moment gewahrte ich eine Bewegung neben mir, drehte mich wassertretend herum - und blickte in eines der hübschesten Gesichter, die ich jemals gesehen hatte.

Es war ein Mädchen, achtzehn, allerhöchstens neunzehn Jahre jung, schlank bis an die Grenzen der Zerbrechlichkeit und von wunderbarem Wuchs. Ich konnte das beurteilen, denn bis auf das schulterlange schwarze Haar, das ihren Kopf wie eine duftige Wolke umschwebte, trug sie keinen Fetzen am Leib. Sie schwamm ein Stück neben mir, hielt mit grazilen Bewegungen der Arme und Beine die Schwebe und musterte mich ebenso neugierig wie ich sie. Plötzlich begriff ich, daß es dasselbe Mädchen war, das ich vorhin gesehen hatte, als ich die unterseeische Stadt zum erstenmal erblickte.

Und als ich in ihre Augen sah, begriff ich noch etwas, denn es waren Augen, die ich kannte.

Die Augen ihrer Mutter.

Das Mädchen neben mir war niemand anders als Jennifer Borden. Severals Tochter.

Die NAUTILUS war zur Ruhe gekommen. Ihre Maschinen lie fen noch immer, ein düsteres, an- und abschwellendes Rauschen und Hämmern, das den Leib des stählernen Gebildes wie donnernder Pulsschlag erfüllte, aber ihre Kraft reichte jetzt nur noch, den Sog der Strömung auszugleichen und das Unterseeboot schwerelos wenige Yards über dem Grund des Tunnels zu halten. Nemos Augen brannten vor Anstrengung. Er fühlte sich müde, erschöpft wie selten zuvor in seinem Leben, und alles, was er wollte, war schlafen. Aber es würden noch sehr viele Stunden vergehen, bis er seinem Körper die Ruhe gewähren konnte, nach der er schrie.

Sein Blick saugte sich an dem winzigen Fleck fahlgrüner Helligkeit fest, der auf dem flimmernden Bild-Spiegel erschienen war. Die Scheinwerfer des Schiffes waren erloschen, aber das grüne Leuchten, eine halbe Meile vor dem Schiff, schien dünne Spinnenfinger aus Licht in den Stollen zu schicken, und davor bewegten sich... Dinge.

Nemos Zunge fuhr nervös über seine Lippen. Vielleicht war es zum ersten Male in seinem Leben, daß er wirkliche Angst empfand. Aber vielleicht war das, was er da spürte, auch etwas anderes. Er wußte, wie gering ihrer aller Chancen waren, aber das war es nicht. Er war es gewohnt, sein Leben zu riskieren.

Seine Finger suchten einen winzigen Schalter auf dem Pult und legten ihn um, und in einem anderen, luftdicht abgeschlossenen Raum des Schiffes erwachte ein kleines Tonübertragungs gerät mit einem scharfen Knacken zum Leben, und ein Mann hob den Kopf und richtete den Blick seiner vom Fieber geröte ten Augen gegen die Decke.

»Wir sind da«, sagte Nemo. Seine Stimme zitterte. »Du willst es wirklich tun?«

Der andere antwortete nicht, aber sein Schweigen war beredt genug. Nemo atmete hörbar ein, schloß für einen Moment die Augen und ballte die Hände zu Fäusten.

»Dann macht euch bereit«, sagte er nach einer Weile. »Und viel Glück, mein Freund.«

Er wartete nicht, ob eine Antwort aus dem winzigen Lautsprecher auf seinem Pult kam, sondern schaltete das Gerät ab, straffte sich sichtbar und begann, plötzlich wieder ganz ruhig und womöglich noch angespannter als bisher, in rascher Folge Schalter und Hebel umzulegen.