Sicher - gerade die Ereignisse von vor zwei Wochen, auf die Mary anspielte, bewiesen, daß das nicht zwingend so sein mußte; ganz im Gegenteil hatte Lady Audrey McPhearson sogar davon profitiert. Aber die Geschehnisse hatten mir auch mit furchtbarer Deutlichkeit bewiesen, wie gefährlich die GROSSEN ALTEN noch immer waren. Und wie leicht es war, ihre fürchterliche Macht zu wecken. Die Wand, die das, was die meisten Menschen für die Wirklichkeit hielten, von der Welt des Wahnsinns und der Alpträume trennte, war dünn. Und sie hatte Risse bekommen in der letzten Zeit. Ich mußte etwas tun. Und dazu kam noch etwas: Mein Freund Howard Lovecraft und sein Diener Rowlf waren verschwunden. Seit jener Nacht vor zwei Wochen, in der wir das Erwachen Shub-Niggurath' gerade noch hatten verhindern können, hatte ich kein Lebenszeichen der beiden mehr erhalten.
»Sie müssen endlich aufhören, sich selbst zu quälen, Junge«, fuhr Mary fort, als ich auch nach einer Weile noch keine Anstalten machte zu antworten. »Mit Selbstvorwürfen helfen Sie niemanden. Auch Howard und Rowlf nicht.«
»Es sind keine Selbstvorwürfe, Mary«, antwortete ich ernst. »Ich wollte, sie wären es. Aber es ist die Wahrheit. Es ist ein Fluch, Mary. Mein Fluch.«
»Unsinn«, widersprach sie, aber diesmal ließ ich ihre Worte nicht gelten.
»Es ist kein Unsinn«, sagte ich heftiger, als nötig gewesen wäre. »Ich weiß nicht, was es ist, aber ich scheine Unglück zu verbreiten wie ein tollwütiger Hund seine Krankheit. Jeder, mit dem ich zusammentreffe, kommt auf die eine oder andere Weise zu Schaden oder verschwindet.«
»Sie haben Pech gehabt, Robert«, begann Mary, aber ich ließ sie nicht weiterreden.
»Pech?!« Ich schrie fast. »Pech, Mary? Ein Pech, wie es Priscylla hatte, als sie den Fehler beging, sich ausgerechnet in mich zu verlieben? Oder Shannon, der dumm genug war, mich zu retten, statt mich umzubringen?« Ich ballte die Hand zur Faust, schüttelte ein paarmal hintereinander den Kopf und ließ sie so fest auf den Tisch klatschen, daß die Kaffeetassen zu klirren begannen. Erschrocken setzte ich mich wieder auf und wischte die Kaffeetropfen, die auf die Platte geraten waren, mit dem Jackenärmel fort. Mary runzelte tadelnd die Stirn.
»Das hat nichts mehr mit Pech zu tun, Mary«, sagte ich, etwas leiser, aber noch immer sehr erregt. »Sehen Sie denn nicht das System darin? Ich selbst scheine immun zu sein, aber wer immer längere Zeit in meiner Nähe ist, geht auf die eine oder andere Weise zugrunde.«
»Bis jetzt fühle ich mich noch ganz lebendig«, konterte Mary.
»Und was ist mit Ihrer Tochter?« fragte ich spitz. Meine Worte taten mir fast augenblicklich leid, denn ich sah, wie Mary zusammenfuhr und heftig die Lippen aufeinanderpreßte. Ich kam mir gemein vor. Es ist nicht besonders tapfer, alte Wunden aufzureißen. Schon gar nicht bei einem der wenigen Menschen, die wirklich uneingeschränkt auf meiner Seite standen. Aber auch das schien irgendwie dazuzugehören. Ich bezeichne mich nicht als Heiligen, nicht einmal als besonders guten Menschen, aber ich wache auch nicht jeden Morgen mit dem festen Vorsatz auf, jeden, der mir über den Weg läuft, vor den Kopf zu stoßen. Und trotzdem tat ich es immer wieder, ohne es zu wollen.
»Es tut mir leid«, sagte ich leise.
Mary winkte ab. »Schon gut, Robert. Sie haben ja recht. Vielleicht sollte ich mich nicht in Dinge mischen, die mich nichts angehen.«
Ihre Worte trafen mich wie glühende Pfeile. Ich hatte ihr weh getan, sehr weh, und das war so ungefähr das Letzte, wonach mir der Sinn stand.
»Wie... geht es Ihrer Tochter überhaupt?« fragte ich.
Mary versuchte zu lächeln, aber es wirkte sehr gezwungen. »Gut«, sagte sie. »Sie hat letzte Woche geschrieben. Das Internatsleben scheint ihr zu bekommen.« Aber ihr Blick war starr, als sie diese Worte sprach, und was immer sie dabei sah - ich war es nicht. Plötzlich stand sie auf und begann beinahe kektis ch, Tassen und Kanne wieder auf ihr Tablett zu laden.
Ich griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. »Es tut mir leid, Mary«, sagte ich. »Verzeihen Sie.«
Ich hatte halbwegs damit gerechnet, daß sie ihre Hand zurückziehen würde, aber sie tat es nicht, sondern hielt meine Finger im Gegenteil nur noch fester und schenkte mir ein warmes, verzeihendes Lächeln. »Schon gut, Robert«, sagte sie. »Wir sind beide nervös. Ich habe Howard auch gemocht, wissen Sie?« Sie setzte das Tablett noch einmal ab und sah mich fragend an. »Was hat dieser Inspektor Cohen gesagt?«
»Nichts, was uns weiterhelfen würde«, murmelte ich. »Sie haben seinen Bruder und die meisten dieser Rattenanbeter gefunden. Nur von Howard und Rowlf ist keine Spur zu entdecken. Aber sie suchen weiter.«
Mary wollte etwas erwidern, aber in diesem Moment erscholl die Türglocke, und ich fuhr wie unter einem Hieb zusammen. In den letzten Tagen reagierte ich extrem auf alles Unerwartete. Meine Nervenkraft war wirklich am Ende.
»Wer mag das sein?« wunderte sich Mary. »Um diese Zeit? Es ist nicht einmal fünf.«
Ich zuckte mit den Schultern, ging zur Tür und strich mir automatisch mit den Händen über die Jacke, obgleich das bei einem Gehrock, den ich seit vier Tagen nicht vom Leibe genom men und in dem ich stundenweise geschlafen hatte, ein recht aussichtsloses Unterfangen war.
Charles, der die Stelle des alten Henry als Majordomus eingenommen hatte, war bereits an der Tür, als ich in die Halle kam.
Das helle Licht blendete meine überreizten Augen, so daß ich den morgendlichen Besucher nur als finsteren Umriß sehen konnte, als Charles die Tür öffnete. Aber mehr war auch nicht nötig, denn ich erkannte ihn im gleichen Moment, in dem er die Hand an den Hut hob und Charles begrüßte. Ich würde seine Stimme niemals im Leben vergessen, denn er war dabei gewesen, als dieser ganze schreckliche Alptraum begann.
Abrupt blieb ich stehen und starrte den stämmigen, in einen zerschlissenen grauen Mantel gekleideten Mann an. »Bannermann!«
Der ehemalige Kapitän der Lady of the Mist nickte, nahm seinen Hut ab und trat an Charles vorbei ins Haus. Als er näher kam, sah ich, daß er sich verändert hatte; weitaus stärker, als es in den über zwei Jahren seit unserer letzten Begegnung normal gewesen wäre. Er wirkte bleich, was noch an der frühen Stunde oder einer Nacht mit zu wenig Schlaf liegen mochte. Aber er hatte auch abgenommen, und in seinem Gesicht waren tiefe, scharf wie Narben gezeichnete Linien erschienen, die ich damals nicht bemerkt hatte. Ein stummer Vorwurf lag in seinem Blick, dazu ein Ausdruck von Schmerz, der sich über unzählige lange Monate hineingegraben haben mußte.
Ich wurde mir der Tatsache bewußt, daß ich ihn anstarrte, löste mich mit einem verlegenen Lächeln von meinem Platz an der Treppe und streckte ihm die Hand entgegen. Bannermanns Haut fühlte sich kalt und klebrig an, als hätte er Fieber.
»Bannermann!« sagte ich noch einmal. »Kapitän Bannermann - welche Freude, Sie endlich wiederzusehen. Welcher Wind hat Sie zurück nach London getrieben?«
Bannermann starrte mich an, und als ich seinem Blick begegnete, schauderte ich. Es war der Blick eines Verzweifelten.
»Ich brauche Ihre Hilfe, Craven«, antwortete er. Thruman setzte das Fernrohr ab und schob es zusammen, ohne den Blick vom Meer zu nehmen. Der Sturm, der das kleine Küstenpatrouillenschiff während der letzten zwei Tage und drei Nächte gebeutelt hatte, war mit dem ersten Licht des Tages zu einer zwar noch immer steifen, aber nicht mehr gefährlichen Brise abgeflaut, und verglichen mit dem grauen Schäumen und Toben, durch das die Silver Arrow während der vergangenen beinahe sechzig Stunden gestampft war, lag das Meer fast ruhig da.