Was nicht bedeutete, daß es wirklich ruhig war. Jemandem, der zum erstenmal in seinem Leben einen Fuß auf die Planken eines Schiffes gesetzt hätte, wäre das Schaukeln und Wiegen der Arrow wie ein wütendes Aufbäumen vorgekommen, und der Wind riß noch immer eisiges Salzwasser von der Meeoberfläche hoch und hüllte das Schiff in eine Wolke aus Kälte und alles durchdringender Feuchtigkeit.
Kapitänleutnant Thornton Thruman nahm das alles nur am Rande wahr; mit einem winzigen Teil seines Bewußtseins, der beinahe unabhängig von seinem normalen Denken und Handeln funktionierte. Sein Hauptaugenmerk galt dem Meer, genauer gesagt, einer ganz bestimmten Stelle weniger als eine halbe Seemeile leewärts der Arrow.
Thruman sah sich unschlüssig um, winkte seinen Ersten Offizier heran und zog das Glas wieder auseinander, als der Mann einen Schritt neben ihm stehenblieb, die Absätze zusammen knallte und zackig salutierte. Thruman zog eine Grimasse.
»Hören Sie gefälligst mit dem Quatsch auf, Mister Spears«, sagte er. »Wir sind hier nicht auf der Marineakademie, und auch nicht im Hafen. Hier - schauen Sie lieber dorthin und sagen Sie mir, was Sie sehen.«
Spears griff gehorsam nach dem Glas und blickte konzentriert in die Richtung, in die der ausgestreckte Arm des Kapitäns deutete. Thruman beobachtete aufmerksam seinen Gesichtsausdruck. Zuerst waren die Züge des IO schlaff und blaß wie immer, dann, ganz plötzlich, erschien ein zuerst überraschter, dann beinahe erschrockener Ausdruck darauf. Thruman unterdrückte im letzten Moment ein zufriedenes Nicken, als Spears das Glas absetzte und nun mit bloßem Auge nach Osten starrte.
»Was ist das?« murmelte er.
Thruman hob die Schultern. »Das weiß ich so wenig wie Sie, Mister Spears«, antwortete er. »Zuerst hielt ich es für ein Tier. Es haben sich schon Wale in diese Gewässer verirrt.«
»Ich weiß.« Spears nickte, ohne den Blick von dem grauschwarzen Schatten zu nehmen, der immer wieder hinter den Wellen verschwand und erneut auftauchte, ein ewiges Auf und Ab, das eine beinahe einschläfernde Wirkung auf jeden Betrachter hatte. »Aber dafür ist es zu groß. Ich kenne mich da aus, Sir.«
»Ich weiß. Deshalb habe ich Sie gerufen. Sie haben früher auf einem Walfänger gearbeitet, nicht wahr? Was könnte das sein?«
Spears wiegte unschlüssig den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, Sir«, gestand er schließlich. »Es muß fast doppelt so groß sein wie der längste Blauwal, von dem ich je gehört hätte. Das Ding ist mindestens viermal so groß wie die Arrow. Vielleicht ein Riff, ein Felsen, der nicht auf den Karten verzeichnet ist.«
Thruman blickte ihn eine endlose Sekunde lang an, dann schüttelte er den Kopf und deutete auf den monströsen Schatten hinaus. »Es bewegt sich, Spears.«
Spears erschrak sichtlich. »Sind Sie... sicher, Sir?« fragte er. »Ich meine, die See ist unruhig, und...«
»Ich bin sicher«, sagte er betont. »Ich beobachtete dieses Ding schon die halbe Nacht hindurch. Es bewegt sich. Es hält immer den gleichen Abstand zur Arrow, Spears.« Er atmete ein, ganz in der Art, als wolle er weiterreden, besann sich aber dann anders und nickte nur bekräftigend. »Ich irre mich nicht, Spears. Das Ding bewegt sich. Mit der exakt gleichen Geschwindigkeit wie wir.«
Es gab etwas, was er nicht aussprach. Es war nicht nur die Größe des Dinges, die ihn beunruhigte. Er war sicher, daß es keiner der anderen bemerkt hatte, denn das knappe Dutzend Männer, das die gesamte Besatzung des kleinen Schoners bildete, hatte während der Nacht alle Hände voll zu tun gehabt, das Schiff gegen den Sturm zu legen und der berüchtigten Steilküste nicht zu nahe zu kommen. Aber er hatte es gesehen Den Schatten. Seine Bewegung, gleichzeitig träge wie elegant, ein ungeheuer machtvolles Pflügen und Gleiten immer dicht unter der Wasseroberfläche. Und das Licht. Drei- oder viermal hatte er einen schwachen, aber trotzdem deutlichen Lichtschein gesehen, einen Punkt grünlichgelber, flackernder Helligkeit dicht unter der Wasseroberfläche.
Aber das sprach er lieber nicht aus.
»Seetang«, sagte Spears plötzlich.
Thruman schrak aus seinen Gedanken hoch, blinzelte einen Moment verstört und sah den IO fragend an. »Wie meinen Sie das?«
»Es kommt vor«, antwortete Spears, noch immer aus eng zusammengekniffenen Augen nach Osten starrend. »Nicht in diesem Teil der Welt und auch nicht sehr häufig. Aber es kommt vor. Manchmal bilden sich gewaltige schwimmende Inseln aus Seetang, so groß wie eine Stadt. Haben Sie schon einmal von der Sargasso-See gehört?«
Thruman lächelte verzeihend. »Ich bin in Ihren Augen vielleicht nur ein Süßwassermatrose, IO«, sagte er. »Aber ich kann lesen.«
Der Offizier schluckte nervös, schien plötzlich nicht mehr zu wissen, wohin mit seinen Händen, und rettete sich in ein gequältes Lächeln. »Es tut mir leid, Sir. Ich wollte Sie nicht beleidigen.«
Thruman winkte ab. »Schon gut. Sie denken also, es könne sich um Seetang handeln?«
»Ich... weiß nicht, Sir«, stotterte Spears, der über seine eigene Idee plötzlich gar nicht mehr so glücklich zu sein schien wie noch vor Sekunden. »Das Ding muß an die siebzig Yards messen.«
»Vielleicht wäre das eine Erklärung«, murmelte Thruman. »Sie haben den letzten Befehl aus London erhalten, nehme ich an. Wir sollen nach allem Ungewöhnlichen Ausschau halten. Es sind mehrere kleine Schiffe verschwunden seit dem Winter.«
Spears antwortete nicht, und nach einer Weile fuhr der Kapitän fort: »Diese Sargasso-See, Mister Spears... man sagt, daß schon Schiffe hineingeraten und so vom Tang umschlungen worden sind, daß sie nie wieder herauskamen. Stimmt das?«
»Ich habe keine Ahnung«, gestand Spears. »Aber wenn Sie meine persönliche Meinung hören wollen...«
»Das will ich«, sagte Thruman, als der IO nicht weitersprach.
»Seemannsgarn«, sagte Spears. »Eine kleine Segeljolle kann sich vielleicht darin verfangen, oder ein Ruderboot. Aber kein Schiff wie die Arrow. Nicht einmal eines der Fischerboote, die hier verschwunden sein sollen.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die Steilküste Schottlands, die auf der anderen Seite des Schiffes wie ein weißer Kreidestrich zwischen Himmel und Meer sichtbar war. »Die Küste hier ist für ihre Strömungen und Tücken bekannt.«
»Ich weiß«, sagte Thruman seufzend. »Aber trotzdem... Befehl ist Befehl. Mister Spears, wir nehmen Kurs auf diese Erscheinung. Mal sehen, ob sie unserem Motor davonläuft.«
Spears salutierte hastig, fuhr herum und lief, schräg gegen den Wind geneigt, zum Steuerruder zurück. Thruman hörte ihn Befehle brüllen. Wenige Augenblicke später begann sich die stumpfe Nase mit einer täuschend langsamen Bewegung nach Osten zu drehen, genau auf den gewaltigen, langgestreckten Umriß eine halbe Meile entfernt zu. Kurz darauf begann das Deck unter seinen Füßen sanft zu beben, als das Patrouillenboot Fahrt aufnahm.
Ganz langsam kam der Schatten näher. Es war wie die Male zuvor - er entfernte sich von der Arrow und schien dabei ein Stück tiefer unter die Meeresoberfläche zu gleiten, aber Thrumans Rechnung schien aufzugehen. Der vollen Kraft der beiden Motoren, die im Bauch der Arrow tuckerten, hatte die Erscheinung nichts entgegenzusetzen. Langsam, sehr sehr langsam, aber trotzdem unaufhaltsam, verringerte sich die Entfernung zwischen dem Patrouillenschiff und dem sonderbaren Ding.
Aus dem zerfaserten, scheinbar formlosen Schatten, der das Schiff die ganze Nacht über begleitet hatte, wurde ein langgestreckter, gewaltiger Umriß. Thruman erschrak insgeheim, als er sah, daß Spears Schätzung eher zu vorsichtig gewesen war. Der Schatten war so breit, wie die Arrow vom Bug bis zum Achtersteven maß, und dabei gut fünfmal so lang wie sein Schiff. Mindestens achtzig Meter, schätzte er, wenn nicht mehr. Es gab auf der ganzen Welt kein Tier, das so groß war. Keines, das der Wissenschaft bekannt gewesen wäre, verbesserte er sich in Gedanken. Die Meere waren groß und selbst heute noch zum Teil unerforscht, und in ihren lichtlosen Tiefen mochten Geschöpfe leben, die sich selbst die gewaltigste Phantasie nicht vorzustellen vermochte. Was, wenn das Ding da vorne nun keine schwimmende Tanginsel war, sondern ein Meeresungeheuer, das sie mit ihrer beharrlichen Verfolgung reizten? Er hatte Spears vorhin mit voller Absicht nicht die ganze Wahrheit gesagt. Zwei von den Schiffen, die in den letzten Wochen in diesem Teil Schottlands gesunken oder schlichtweg verschwunden waren, waren größer als die Arrow gewesen. Weitaus größer.