Neue Romane vom
Hexer von Salem
DER DAGON-ZYKLUS
Band 2
BECHTERMÜNZ VERLAG
Genehmigte Lizenzausgabe für
Bechtermünz Verlag im
Weltbild Verlag GmbH, Augsburg 1996
Copyright © 1991 by Bastei Verlag,
Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch-Gladbach
Umschlagbild: Agentur Holl, Aachen
Einbandgestaltung: Adolf Bachmann, Reischach
Gesamtherstellung: Ebner Ulm
Printed in Germany
ISBN 3-86047-343-3
In maschinenlesbares Format
übertragen von peterpan
Korrektur und Satz von Tinkerbelle
Version 1.0
Jenseits des zollstarken Glases herrschte immerwährende Nacht. Manchmal bewegten sich Schatten durch die Finsternis; große Dinge, die sich dem Auge nicht genau zu erkennen gaben, aber bedrohlich und böse wirkten. Dann wieder war es die Schwärze selbst, die sich bewegte: ein schwerfälliges, mühsames Wogen und Gleiten, als wäre sie selbst ein sonderbares, finsteres Ding.
Nemo schauderte. Es war kalt geworden im Salon der NAUTILUS; so kalt, daß sein Atem als flüchtiger grauer Nebel vor seinem Gesicht erschien. Das Wasser, das zu Millionen und Abermillionen Tonnen auf dem stählernen Leib der NAUTILUS lastete, saugte die Wärme aus dem Schiff.
Aber es war nicht allein die Kälte, die ihn frösteln ließ. Sie würden nicht erfrieren. Sie würden tot sein, lange bevor die Temperaturen an Bord der NAUTILUS so tief gesunken waren, daß ein Leben auf dem verlorenen Schiff unmöglich wurde...
Seufzend trat Nemo von der riesigen, runden Scheibe zurück, die wie ein übergroßes Auge die Stahlwandungen des Schiffes durchbrach, schlug die Hände um die Oberarme und wandte sich mit einem Ruck ab. Die beiden Männer, denen er die letzten Stunden schweigend zugesehen hatte, waren gegangen; er war allein im Salon des Schiffes. Allein mit sich und seinen Gedanken; seiner Furcht.
Seltsam - er hatte niemals Angst gehabt, obgleich er nicht das erste Mal in einer Situation war, aus der es scheinbar keinen Ausweg mehr gab und in der jeder andere aufgegeben hätte.
Jetzt hatte er Angst; mehr Angst, als je zuvor in seinem Leben.
Und er durfte sie weniger zeigen als je zuvor.
Wieder blickte sich der schlanke, ausgezehrt wirkende Mann in der Zentrale des Schiffes um, warf einen neuerlichen Blick auf das runde Sichtfenster und trat dann an das hufeisenförmige Pult, an dem die beiden Mechaniker die letzten Stunden wie besessen gearbeitet hatten.
Nicht, daß es einen sichtbaren Erfolg gehabt hätte; im Gegenteil. Das mit Schaltern, Knöpfen und verwirrend aussehenden Skalen und Anzeigeinstrumenten übersäte Pult war ein einziges Chaos. Was Spears mit seinem sinnlosen Angriff nicht zerstört hatte, das hatten die beiden Mechaniker herausgenommen oder zum Teil demontiert. Die Abdeckplatte mit den schweren messingfarbenen Nieten war zerborsten; aus dem gezackten Loch quollen bunte Leitungen und Drähte wie mechanische Eingeweide. Wie um das Bild perfekt zu machen, war eine Leitung geborsten; dunkles Öl tropfte aus den zerrissenen Enden wie dickflüssiges Blut. Das Gehirn der NAUTILUS war zerstört. Vielleicht für immer.
Die beiden Mechaniker hatten kaum ein Wort geredet; mit Ausnahme der Bemerkungen, die sie ab und zu austauschten, oder der gelegentlichen Bitten an ihn, das eine oder andere Instrument zu betätigen, damit sie seine Funktion prüfen konnten. Aber er hatte in ihren Gesichtern gelesen.
Und was er gesehen hatte, entsetzte ihn.
Trotzdem hatte er sich beherrscht und die bohrenden Fragen, die ihm auf der Zunge lagen, heruntergeschluckt. Die beiden Mechaniker verstanden ihr Handwerk wie alle seine Leute. Wenn es jemanden gab, der aus dem Gewirr von zerborstenem Glas und Metall wieder eine funktionstüchtige Maschinerie machen konnte, dann sie.
Das leise Scharren eines aufgleitenden Schotts riß ihn aus seinen Gedanken. Nemo fuhr hoch, drehte sich mit einer fast schuldbewußten Bewegung um und lächelte unwillkürlich, als er die beiden ungleichen Gestalten erblickte, die den Salon betreten hatten. Die größere von beiden trat ohne ein weiteres Wort zum Sichtfenster und blickte hinaus, während die andere, kleinere, einen beinahe flüchtigen Blick auf das zertrümmerte Pult warf und dann auf ihn zuging.
»Nun?«
Nemo registrierte das Dutzend unausgesprochener Fragen, das in diesem so harmlos klingenden Wort verborgen war. Er seufzte, schüttelte den Kopf und ließ sich mit einer erschöpften Bewegung in einen Sessel fallen.
»Wir müssen abwarten«, sagte er stockend. »Sie werden es schaffen.«
Der Mann legte den Kopf auf die Seite. »Ist das das, was sie sagen - oder was du hoffst?« fragte er.
Nemo lachte leise. »Macht das einen Unterschied?«
Der Mann blickte ihn an, dann schüttelte er den Kopf und lachte seinerseits. »Nein«, murmelte er. »Ich hätte es nur gerne gewußt, das ist alles.«
»Wir haben eine gute Chance«, antwortete Nemo, nachdem er eine Zeitlang an dem Riesen vorbei in die Unendlichkeit jenseits des Glases geblickt hatte. »Unsere Lebensmittel reichen für Monate, und die Lufttanks sind voll.«
Der Mann neben ihm antwortete nicht gleich, aber der Ausdruck in seinen dunklen, von einem Netz winziger Fältchen umgebenen Augen wurde noch besorgter. »Wie lange reicht unsere Atemluft?«
Nemo seufzte. »Eine Woche. Vielleicht acht Tage.«
»Nur soviel Zeit wernse uns nich lassen«, nuschelte der Mann am Fenster.
Nemo wollte widersprechen, aber er kam nicht dazu, denn im selben Moment ging ein tiefer, knirschender Laut durch das Schiff, gefolgt von einer spürbaren Erschütterung, die die Gläser auf dem Tisch vibrieren ließ.
Keiner der drei sagte ein Wort, aber jeder wußte, was der andere dachte. Es war nicht das erste Mal, daß sie diesen Laut hörten. Einen Laut, der an das Geräusch erinnerte, mit dem gewaltige Zähne über den stählernen Rumpf der NAUTILUS scharren mochten...
Das Boot war nicht gekommen.
Ich war zurück zur Küste gegangen und hatte den gefährlichen Abstieg über die Steilwand ein zweites Mal gewagt, aber seither waren mehr als zehn Stunden vergangen, und der Ozean war leer geblieben. Nemos Boot, das mich spätestens zur Mittagsstunde wieder abholen sollte, war nicht aufgetaucht. Jetzt befand ich mich auf dem Rückweg nach Firth'en Lachlayn. Und zu Severals Haus.
Der Ort hatte sich abermals verändert, als ich den Hügel überwand und die kleine Ansammlung niedriger Häuser unter mir liegen sah. Hinter den meisten Fenstern brannte jetzt Licht, und auf dem rechteckigen Platz im Zentrum der Stadt flackerte ein gewaltiges Feuer, dessen Schein die hereinbrechende Dämmerung über der Stadt mit Blut durchwob.
Ich näherte mich der Stadt sehr vorsichtig, denn ich konnte nicht darauf hoffen, einfach hereinspazieren zu können, ohne daß mich jemand erkannte. Firth'en Lachlayn war ein Ort von gut hundert Seelen: groß genug, um als Fliegendreck auf einer Landkarte auftauchen zu können, aber klein genug, daß jeder den anderen kannte.
Mein Gepäck hatte ich unweit des Ortsrandes in einem Gebüsch versteckt und trug jetzt nur noch meinen Stockdegen bei mir. Diesmal hatte ich alles von Nemos Ausrüstung mitgenommen, was ich tragen konnte - darunter auch vier Reservepatronen für das Oxygengerät. Der Gedanke, noch einmal in diesen verfluchten See hinabsteigen zu sollen, ließ mich schier zu Eis erstarren, aber ich hatte das sichere Gefühl, es zu müssen. Nemo war kein Mann, der mich einfach vergessen würde.
Wenn er nicht kam, dann konnte er nicht kommen.