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Aber das war auch alles, was geschah. Die Dagon jagte weiter, und mit Ausnahme der einen Gestalt hinter der Reling zeigte sich nicht eine Spur von Leben auf ihrem Deck.

Lawrence schauderte. Womit hatte er das Schiff verglichen, vorhin, bei seinem ersten Gespräch mit Stayley? Mit dem Fliegenden Holländer? Vielleicht war dieser Vergleich gar nicht so lächerlich gewesen.

»Sie da oben!« schrie er. »Können Sie mich verstehen? Antworten Sie!«

Der Mann antwortete nicht. Er rührte sich nicht einmal, sondern stand starr wie eine Statue da, nicht mehr als ein Schatten in der Nacht. Lawrence rief noch ein halbes Dutzend Male, in allen Sprachen, die er kannte - und das waren eine ganze Menge, denn er hatte genug Jahre seines Lebens auf See und in den verschiedensten Häfen verbracht, um aus sehr vielen Sprachen einige Brocken aufzuschnappen -, aber die Gestalt reagierte nicht auf eines seiner Worte.

Schließlich hob Lawrence schweren Herzens den linken Arm, stieß die Faust zweimal hintereinander rasch nach oben und senkte sie wieder.

Eines der Buggeschütze stieß ein ohrenbetäubendes Donnern und eine yardlange, funkensprühende Flammenzunge aus, und eine halbe Sekunde später explodierte dicht vor dem hochgereckten Bugspriet der Dagon die See.

Der Warnschuß war so knapp plaziert, daß Lawrence für einen Moment fürchtete, er hätte die Dagon getroffen. Aber das Schiff jagte ungerührt weiter.

»Das war die letzte Warnung!« schrie Lawrence. »Der nächste Schuß ist gezielt. Sie haben genau eine Minute Zeit, die Segel zu streichen und beizudrehen!«

Erschöpft ließ er sein Sprechinstrument sinken, fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen und warf einen raschen Blick nach rechts und links. Seine Männer standen an den Geschützen, wohin sie geeilt waren, als er das Schiff in Gefechtsbereitschaft versetzen ließ, und er wußte, daß sie seinem Befehl Folge leisten würden, wenn er die Dagon wirklich unter Beschuß nehmen würde. Aber ihre Gesichter wirkten bleich und verkrampft, und Lawrence las die gleiche Angst in ihren Augen, die er auch selbst verspürte. Viele von ihnen waren altgediente Marinesoldaten und hatten auf zahlreichen Kriegsschauplätzen ihren Mann gestanden, aber keinem war je etwas wie die Dagon begegnet. Und auch in Lawrence sträubte sich etwas bei dem Gedanken, das Feuer auf diesen Giganten zu eröffnen. Er wußte nicht, ob er es wirklich tun würde, wenn der Kapitän dieses bizarren Schiffes auch seine letzte Warnung mißachtete.

Die Minute war längst um, aber Lawrence wartete weiter. Selbst, wenn man dort oben sofort auf den Warnschuß reagierte, würde es bei einem solchen Riesenschiff wohl seine Zeit dauern, bis irgend etwas von dieser Reaktion sichtbar wurde. Eine weitere Minute verstrich, dann noch eine und noch eine und noch eine, und schließlich begriff Lawrence, daß das Schiff nicht anhalten würde.

Dann ...

Es begann beinahe unsichtbar. Etwas an der Dagon veränderte sich, ohne daß Lawrence gleich zu sagen vermochte, was. Irgend etwas geschah mit den Schatten, und mit einem Male schien der Nebel wieder dichter zu werden und die Umrisse des Schiffes aufzulösen.

Es dauerte endlose Sekunden, bis Lawrence begriff, was wirklich vorging. Der Nebel blieb, wie er war - aber die Dagon begann zu verblassen!

Ihre Konturen wurden schwächer. Die gewaltigen, erdfarbenen Segel schienen mit einem Male durchsichtig zu werden, so daß der sternenübersäte Nachthimmel dahinter sichtbar wurde, dann begannen ihre Umrisse zu zerfließen, als nage der Nebel wie unsichtbare Säure an dem Schiff und löse es auf.

Und dann verschwand sie.

Von einer Sekunde auf die andere war die Dagon verschwunden wie ein Spuk, und mit ihr der unheimliche Nebel. Nur noch die Nacht und das Meer und die King George waren da.

Und ein hundert Fuß tiefes und zehnmal so langes Loch in der Meeresoberfläche, wo das Geisterschiff gewesen war.

Kapitän Lawrence hatte nicht einmal mehr genug Zeit, zu erschrecken, ehe die Wassermassen mit einem urgewaltigen Krachen über der Lücke zusammenschlugen, die die Dagon hinterlassen hatte.

Der Sog erfaßte die King George wie eine unsichtbare Riesenfaust, drückte sie zehn, zwanzig Yards tief unter die Wasseroberfläche und zermalmte sie.

Der Salon der NAUTILUS hatte sich drastisch verändert. Aus dem gepflegten Etablissement, das mehr in ein Pariser Luxushotel paßte als in ein Unterwasserschiff, war ein Chaos geworden, in dem nichts mehr an dem Platz war, an dem ich es das letzte Mal gesehen hatte. Selbst die Fußbodenplatten waren herausgerissen worden, so daß ich aufpassen mußte, wo ich hintrat, wollte ich mir nicht noch ein gebrochenes Bein einhandeln.

»Gemütlich haben Sie es, Nemo«, sagte ich.

Nemo lächelte, deutete auf eine Sitzgruppe und machte eine einladende Bewegung mit der Hand. Ich folgte der Geste, und auch Howard und Rowlf nahmen Platz.

»Was bedeutet das alles, Howard?« fragte ich. »Warum seid ihr hier?«

Howard drehte den Kopf und blickte noch einmal zu Nemo und den beiden Mechanikern hinüber, als müsse er sich erst davon überzeugen, daß noch genug Zeit sei, ehe er antwortete. Dann begann er auf seine leise, präzise Art zu erzählen. »In jener Nacht, Robert, in der ich aus London verschwand, erhielt ich einen Brief. Er erreichte mich auf eine...« Er tauschte einen fragenden Blick mit Nemo, und mir entging keineswegs das nur mit den Augen angedeutete Kopfschütteln des Kapitäns der NAUTILUS; offensichtlich gab es doch wohl noch immer Dinge, die ich nicht zu wissen brauchte.

»... eine recht ungewöhnliche Weise«, fuhr Howard schließlich fort. »Gleichwie - dieser Brief enthielt eine dringende Aufforderung Nemos, zu kommen. Sofort zu kommen. Deshalb konnte ich dir auch keine Nachricht hinterlassen, obwohl ich mir denke, daß dich mein plötzliches Verschwinden ziemlich überrascht haben muß.«

»Überrascht?« krächzte ich. »Ich bin fast verrückt geworden vor Sorge, Howard. Wir waren in diesem unterirdischen...« Howard unterbrach mich mit einer Handbewegung, sog an seiner Zigarre und blies eine übelriechende Qualmwolke in meine Richtung.

»Ich weiß«, sagte er, während ich keuchend nach Atem rang. »Ich kenne die ganze Geschichte. Aber es mußte sein, glaube mir. Die Existenz dieses Schiffes muß unter allen Umständen geheimgehalten werden.«

»Auch vor mir?«

Es war eine dumme Frage, und Howard machte sich nicht einmal die Mühe, sie zu beantworten, sondern fuhr mit seiner unterbrochenen Erzählung und einer neuerlichen Rauchattacke in meine Richtung fort: »Nemo hatte seine Gründe, es so dringend zu machen. Er stieß auf einer seiner letzten Fahrten auf eine unterseeische Stadt, die von sonderbaren, höchst erschreckenden Kreaturen bewohnt war - muß ich dir sagen, von welchen?«

»Dagon?« vermutete ich keuchend und wedelte mit der Hand in der Luft vor dem Gesicht herum.

»Dagon«, bestätigte Howard paffend. »Du mußt wissen, Robert, daß Nemo und ich einen gemeinsamen Freund hatten. Roderick Andara.«

»Meinen Vater?«

»Ja«, bestätigte Nemo an Howards Stelle. »Wir waren sehr gute Freunde, Robert.« Eine unbestimmte Trauer klang in diesen Worten mit.

»Von ihm wußte er genug über die GROSSEN ALTEN, um Dagons Hofstaat als das zu erkennen, was sie wirklich sind - Shoggoten«, sagte Howard. »Nemo ist ein Mann, der keine Furcht kennt - aber er ist auch kein Narr. Er wußte, mit wem er es zu tun hatte...«

»... und daß es nur einen Menschen auf der Welt gibt, der weiß, wie man diese Ungeheuer aufhalten kann«, führte Nemo den Satz zu Ende.

Howard sagte nichts darauf, aber er lächelte geschmeichelt, und Nemo fügte hinzu:

»Du, Robert.«