Fünf, zehn, fünfzehn Sekunden lang starrte mich Dagon schweigend an, und es war ein Blick, unter dem ich mich zunehmend unwohler zu fühlen begann. »Einen Toten?« wiederholte er schließlich. »So. Und wie kommt es, daß ich nichts davon weiß?«
Jetzt war ich an der Reihe, perplex zu sein. Dagon sagte die Wahrheit. Es war verrückt - er las meine Gedanken, so mühelos, wie ich ein Buch zu lesen imstande war, aber er wußte nichts von dem Toten, den ich gefunden hatte.
Plötzlich verzerrte sich sein Gesicht vor Zorn. »Versuche nicht, mich zu betrügen, Robert Craven!« sagte er mit einer Stimme, die mehr dem Zischeln einer wütenden Schlange ähnelte als der eines Menschen. »Wir haben eine Abmachung getroffen, und obwohl ich es nicht einmal nötig hätte, halte ich mich daran. Deine Freunde sind frei. Jetzt halte auch du deinen Teil. Oder versuche wenigstens ein bißchen intelligenter zu sein, wenn du mich schon belügen willst«, fügte er hämisch hinzu.
»Aber ich... ich habe ihn gesehen!« verteidigte ich mich. »Er war da, und irgend etwas hat ihn auf furchtbare Weise umgebracht, Dagon. Etwas, das noch an Bord des Schiffes ist. Ich habe ihn berührt, mit eigenen Händen, und...«
Ich hob die Arme, streckte Dagon beinahe anklagend die Hände entgegen und sprach nicht weiter. Ich erinnerte mich gut an das furchtbare Gefühl, als ich den Toten angefaßt hatte. An die widerliche Wärme und Klebrigkeit seines Blutes, das meine Finger verschmierte.
Aber davon war jetzt keine Spur mehr zu sehen. Meine Hände waren sauber, als hätte ich sie stundenlang geschrubbt.
Der Raum mußte sich tief im Leib des Schiffes befinden, denn unter dem hölzernen Gitter, das den Boden bildete, schwappte Wasser, und die Luft schmeckte abgestanden und bitter. Dann und wann war ein dumpfes, stöhnendes Ächzen zu hören, das aus den Wänden zu dringen schien.
Der Kreis grünlicher Helligkeit war da aufgeflammt, wo bis vor Sekunden noch undurchdringliche Schwärze gewogt hatte, ein mannsgroßes Rad flirrenden grünen Lichtes. Der Vorgang war lautlos, aber es schien, als fauche ein körperloser Wind aus dem Riß in der Wirklichkeit hervor, der Kälte mit sich brachte, den Hauch einer anderen Welt.
Die Männer waren nacheinander aus dem Tor getreten, so lautlos und schnell, wie sie sich immer zu bewegen pflegten, mit der Eleganz von Raubkatzen. Die eine oder andere Bewegung wirkte noch nicht ganz koordiniert, und hier und da glaubte Shannon ein schmerzhaftes Flackern in einem Blick zu bemerken, Schweißtropfen auf einer halb von schwarzem Tuch verhüllten Stirn trotz der beißenden Kälte, das Zittern einer behandschuhten Hand. Auch Shannon fühlte ein starkes körperliches Unwohlsein, etwas, das sich wie ein Schmerz in seinen Gliedern eingenistet hatte. Der Durchgang durch das Tor war anders gewesen als die Male zuvor. Die Schmerzen, die Kälte und das furchtbare Gefühl eines nicht enden wollenden Sturzes durch das Nichts waren wie immer gewesen, aber etwas hatte sie begleitet, etwas wie ein Schatten aus den Dimensionen des Irrsinns, die sie durchschnitten hatten. Für einen kurzen Moment ergriff die Angst von seinem Herzen Besitz. Der grüne Kreis hinter der Reihe seiner Krieger begann sich rascher zu drehen, verwandelte sich in ein flammenspeiendes Rad, das dünne feurige Finger bis zur Decke und den Wänden schickte. Auch das war nicht normal, wußte Shannon. Er wartete.
Ewigkeiten schienen zu vergehen, Ewigkeiten, die in Wahrheit nur Minuten waren, aber so, wie die Tore den Raum verzerrten, verbogen und verwandelten sie auch die Zeit. Schließlich begann das helle Zentrum des Lichtkreises zu vibrieren. Etwas Dunkles, Körperloses erschien wie die Pupille eines Dämonenauges im Zentrum des Rades und wuchs rasend schnell heran.
Es war wie ein brodelnder Ball aus Nebel, der lautlos aus dem Tor hinausglitt, flackernd und ohne fest umrissene Konturen. Ein dünner, rauchiger Strang begann aus dem Ball hervorzuwachsen, tastete sich ziellos wie ein blinder Wurm durch die Luft und näherte sich Shannons Gesicht.
Der junge Magier mußte sich mit aller Macht beherrschen, als der Nebelfaden seine Stirn berührte. Er spürte... Kälte.
Zorn. Den Willen, zu töten. Schlimmer: zu vernichten. Alles zu zerstören, was Bestand hatte, nicht nur das Leben, sondern die Materie selbst zu zerstören, bis nur noch Chaos zurückblieb.
Dann etwas wie ein Tasten. Ein Suchen und Sondieren und Erkennen, dann ein plötzliches, beinahe schmerzhaftes Zurückziehen des fremden Etwas, das seinen Geist durchleuchtet hatte.
Der Strang aus Nebel und Nichts löste sich von seinem Gesicht, tastete weiter blind umher und berührte den ersten seiner Männer. Shannon sah die Furcht in seinen Augen aufflammen, als er die Berührung des UNAUSSPRECHLICHEN spürte, aber so wie bei ihm zuvor zog sich der Arm nach einer kleinen Weile zurück, glitt weiter, berührte den nächsten Krieger, den übernächsten...
Als es vorbei war, waren sie sicher. Das Wesen hatte sie als Verbündete erkannt. Shannon wußte es mit der gleichen, durch nichts begründeten Sicherheit, mit der er wußte, was dieser Ball aus brodelnder Schwärze bedeutete.
Aber es war eine Sicherheit, die nicht lange währte. Vier Stunden, hatte Necron gesagt. Vier Stunden, das SIEGEL zu finden und zu holen. Dann würde mit dem UNAUSSPRECHLICHEN das Chaos über dieses Schiff hereinbrechen. Und über alles und jeden, der sich an Bord befand. Mit einem Ruck drehte sich Shannon herum und begann lautlos auf den Ausgang zuzuhuschen. Seine Männer folgten ihm, und kurz nachdem sie den Raum verlassen hatten, begann das Tor endgültig zu erlöschen, der Ball aus dunklem Nebel zu verblassen. Lautlos folgte er den sieben schwarzverhüllten Gestalten der Drachenkrieger. Er war jetzt unsichtbar. Aber da, wo er entlangglitt, begann sich die Wirklichkeit zu verändern...
Ich war wieder an Deck gegangen. Die Kälte hatte zugenommen, und die brodelnde Wand aus Nebel, der Riß in der Wirklichkeit, auf den die Dagon zusteuerte, war breiter geworden, eine klaffende Schlucht, die das Schiff und alles, was darauf war, verschlingen würde.
Trotzdem zog ich den Anblick dem der Menschenmenge unter Deck des Schiffes vor. Ich wußte, daß ich mich irrte - aber mich erinnerten die gut zweihundert Männer und Frauen im Rumpf der Dagon immer mehr an eine Schafherde, die sich widerstandslos zusammentreiben läßt, um zur Schlachtbank zu ziehen. Was, dachte ich, wenn Dagon gelogen hatte? Wenn nicht eine neue Welt, sondern der Tod oder Schlimmeres auf diese Menschen wartete?
Der Gedanke, der daraus folgerte, war furchtbar.
Wenn es so war, dann trug ich die Schuld am Tode von zweihundert Menschen, denn all seine Macht hätte Dagon nichts genutzt, wäre ich nicht freiwillig an Bord dieses Schiffes gekommen.
Meine Hand glitt, beinahe von selbst, in die rechte Tasche meines Rockes, schloß sich um das goldene Amulett und zog es hervor. Es fühlte sich kühl an, sehr schwer und so glatt, als wäre es sorgsam poliert worden, dabei war seine Oberfläche alles andere als eben, sondern von verwirrenden Linien und Mustern zerfurcht.
Die Vorstellung, daß dieses so harmlos aussehende Stück Edelmetall über das Schicksal eines ganzen Dorfes entscheiden sollte, erschien mit lächerlich. Dagon hatte mir bisher - trotz meiner bohrenden Fragen - nicht gesagt, welche Bewandtnis es mit diesem Amulett hatte.
Ich drehte das scheinbar nutzlose Ding ein paarmal in den Händen, seufzte tief und wollte es wieder wegstecken, als ich eine Bewegung wahrnahm. Als ich mich umdrehte, erkannte ich Bannermann, der offensichtlich hier oben auf mich gewartet und bisher hinter einem der mächtigen Masten gestanden hatte. Jetzt trat er auf mich zu, lächelte flüchtig und deutete mit der Hand auf den goldenen Stern in meinen Fingern.
»Ist es das?« fragte er.
»Was?«