»Andaras Amulett«, antwortete Bannermann. Ich nickte, machte Anstalten, es vollends einzustecken, aber Bannermann streckte fordernd den Arm aus, und nach kurzem Zögern ließ ich den goldenen Stern in seine Hand fallen.
»Woher wissen Sie davon?« fragte ich.
Bannermann strich fast behutsam mit den Fingerspitzen über die dünnen Linien, die in das Gold graviert worden waren. »Ihr Vater hatte es bei sich, als wir mit der Lady Schiffbruch erlitten haben«, sagte er. »Ich erinnere mich daran. Ich bin zwar alt, aber mein Gedächtnis funktioniert noch ganz gut.« Er lächelte, hielt den goldenen Stern in die Sonne und reichte ihn mir dann zurück. »Außerdem hat mir Dagon erklärt, daß er ihn braucht«, fügte er hinzu.
»Wozu?« fragte ich.
Bannermann zuckte mit den Achseln. »Sind Sie hier der Hexer oder ich?« fragte er in halb scherzhaftem, halb ernstem Ton. »Vielleicht reicht es schon, wenn es an Bord ist.« Er seufzte, drehte sich herum und blickte aus zusammengekniffenen Augen in den wogenden Nebel vor dem Bugspriet des Schiffes. »Wahrscheinlich sogar«, fuhr er fort, leise und ohne mich dabei anzusehen. »So wie ich diesen wandelnden Hering einschätze, würde er es nicht zulassen, von irgend jemandem abhängig zu sein. Von Ihnen schon gar nicht.«
Ich antwortete nicht. Bannermanns bewußt scherzhafter Ton täuschte mich keine Sekunde. Er hatte nicht nur auf mich gewartet, um Konversation zu machen, sondern aus einem ganz bestimmten Grund.
Plötzlich drehte er sich herum, sah mich durchdringend an und fragte ganz leise: »Warum haben Sie es getan, Robert?«
»Was?« erwiderte ich verwirrt.
Bannermann deutete mit einer fast zornigen Geste auf die Tasche, in der ich den goldenen Stern hatte verschwinden lassen. »Sie wissen, daß Dagon dieses Amulett braucht«, sagte er. »All seine Vorbereitungen und Zauberkunststückchen hätten ihm nichts genutzt ohne dies. Vielleicht wäre er jetzt schon tot.«
Ich wollte widersprechen, aber ich konnte es nicht, denn in Bannermanns Worten lag ein unüberhörbarer Vorwurf, der sich wie eine glühende Messerklinge in meine Brust bohrte. »Was... was soll das, Bannermann?« stammelte ich hilflos. »Vor nicht einmal einer halben Stunde haben Sie praktisch das Gegenteil behauptet. Sie waren es, der...«
»Ich weiß, was ich gesagt habe, Craven«, unterbrach mich Bannermann zornig. »Und was die Leute aus Firth'en Lachlayn betrifft, bleibe ich dabei. Aber das war nicht Grund, aus dem Sie hier sind. Sie hatten es in der Hand, Dagons Flucht zu verhindern. Sie hatten es in der Hand, ihn zu vernichten und seine ganze schwarze Brut.«
»Was soll das, Bannermann?« murmelte ich betroffen. »Ein Verhör? Zu einem Tribunal fehlen Ihnen noch ein paar Mann.«
»Kein Verhör«, verbesserte mich Bannermann sanft. »Ich versuche mir nur darüber klar zu werden, was in Ihrem Kopf vorgeht, Craven. Ich versuche, Ihre Beweggründe zu begreifen. Ihr Handeln ist nicht logisch.«
»Das Leben meiner Freunde Howard und Rowlf und das der ganzen Besatzung der NAUTILUS stand auf dem Spiel. Das Wort Freundschaft haben Sie wohl noch nie gehört, wie?« fragte ich böse.
»Doch«, antwortete Bannermann. »Aber ich verstehe nicht, warum Sie...«
Der Rest seines Satzes ging in einem urgewaltigen Dröhnen unter, das die Dagon erschütterte.
Es ging unglaublich schnell, und Dutzende von Dingen schienen gleichzeitig zu geschehen:
Über dem Schiff erlosch der Himmel. Wo gerade noch strahlender Sonnenschein gewesen war, erstreckte sich plötzlich eine nachtschwarze Kuppel aus lichtschluckender Finsternis, durchzuckt von Blitzen, die wie spinnenfingrige blauweiße Hände über den Himmel rasten. Rings um die Dagon begann das Meer zu kochen, warnungslos, von einer Sekunde auf die andere. Haushohe Gischtwolken stoben auf, Wogen, höher als die Bordwand des Schiffes, rasten über die See, und mein erschrockener Aufschrei ging im ununterbrochenen Krachen und Bersten apokalyptischer Donnerschläge unter. Ein ungeheures Wimmern und Heulen erfüllte die Luft, und hoch über unseren Köpfen blähten sich die gewaltigen Segel der Dagon mit einem Schlag, der das Schiff bis in den letzten Winkel erzittern ließ.
Dann traf die erste Riesenwelle das Schiff, hob es wie ein Spielzeug in die Höhe und ließ es mit furchtbarer Gewalt zurück in das ihr folgende Wellental stürzen.
Die Erschütterung riß uns beide von den Füßen. Hilflos kugelte ich über das Deck, sah Bannermann wie eine gewichtlose Puppe durch die Luft fliegen und mit einem markerschütternden Schlag gegen den Mast prallen, krachte selbst gegen einen Decksaufbau und kämpfte eine Sekunde lang mit aller Macht gegen die schwarze Bewußtlosigkeit, die von mir Besitz ergreifen wollte.
Als ich aufstehen wollte, ergriff mich eine Sturmbö und fegte mich abermals von den Füßen. Ich rollte über das Deck und versuchte mich irgendwo festzuklammern, kam erst am Fuße der Treppe, die zum Achterdeck hinaufführte, zur Ruhe.
Für eine Sekunde.
Dann hob die nächste Welle die Dagon in die Höhe, drehte das ganze gewaltige Schiff wie einen Spielzeugkreisel einmal um seine Achse und ließ es wieder fallen. Ein ungeheures Knirschen und Bersten erklang. Ich hörte einen Schrei, spürte einen weiteren knochenbrechenden Schlag, versuchte auf die Füße zu kommen und fiel nach vorn, als sich die Dagon wie ein bockendes Pferd unter mir aufbäumte und ihr Deck wie eine hölzerne Faust nach mir schlug.
Erneut ertönte dieses fürchterliche Krachen und Splittern, und plötzlich sah ich einen Schatten, fühlte mich an den Armen ergriffen, in die Höhe und zur Seite gerissen.
Keine Sekunde zu spät!
Zum dritten Male erklang dieser schreckliche Laut, lauter als die Male zuvor, und plötzlich regneten dort, wo ich vor einer Sekunde noch gelegen hatte, mannsgroße Holztrümmer zu Boden. Dann schien der Himmel selbst auf das Schiff niederzustürzen, als sich die gebrochene Spiere endgültig aus ihrer Halterung löste und hinunterfiel, gewaltige Fetzen des zerrissenen Segels mit sich zerrend. Tonnenschwere Holztrümmer krachten auf das Deck und zermalmten die Planken; der Platz vor der Treppe war plötzlich ein zerfetzter, bodenloser Krater, und noch immer hielt das Bombardement aus Trümmern, zerrissenen Seilen und Tuchfetzen an. Bannermann schleifte mich mit sich, bis wir im Windschatten des Hauptmastes und wenigstens für den Moment außer Gefahr waren. Die Dagon erbebte weiter unter den furchtbaren Schlägen, die ihre Flanken trafen, und selbst der turmhohe Mast, in dessen Schutz mich Bannermann gezerrt hatte, begann unter der Belastung zu ächzen. Ununterbrochen zuckten Blitze vom Himmel, und die Donnerschläge erfolgten jetzt so schnell, daß sie zu einem einzigen, nicht enden wollenden Rollen und Krachen geworden waren.
»Was bedeutet das, Bannermann?« schrie ich über das Heulen des Sturmes hinweg. Ich wußte nicht einmal, ob Bannermann meine Stimme hörte, aber dann hob er den Arm, deutete nach vorn, und ich folgte der Geste mit Blicken - und schrie entsetzt auf.
Nicht nur der Himmel war verschwunden, sondern auch der brodelnde Nebel, auf den die DAGON wie ein Geschoß zugefegt war. Nun erstreckte sich dort die unendliche Fläche eines sturmzerfetzten Meeres, rauhes, kochendes Wasser, auf dem häusergroße Schaumflocken wie tanzende Dämonen wirbelten.
Aber das war es nicht, was mein Herz schier zum Stocken brachte.
Weit vor der Dagon, fast vor der brodelnden grauweißen Linie des Horizontes klaffte ein Loch im Meer.
Ein Strudel.
Ein gewaltiges, allen Naturgesetzen spottendes Gebilde, als hätte jemand einen riesigen Korken aus dem Meeresboden gezogen, aus dem das Wasser jetzt schneller und schneller abfloß; ein Sog wie ein unter die Wasseroberfläche gesunkener Taifun, Meilen um Meilen groß und so tief wie die Hölle. Und die Dagon schoß wie ein Pfeil auf diesen gigantischen Strudel zu!