»Diese Warterei geht mir auf die Nerven«, hörte ich eine Stimme. »McGillycaddy hat uns versprochen...«
»Ich weiß selbst, was er gesagt hat«, erwiderte die Stimme eines zweiten Mannes. Ich konnte ihn durch das beschränkte Sichtfeld des Schlüsselloches nicht sehen, aber ich hörte seine Schritte, als er ungeduldig im Zimmer auf und ab zu gehen begann. »Er wird schon kommen.«
»Ja«, knurrte der Dürre säuerlich und riß ein Streichholz an. »Fragt sich bloß, wann. Zum Teufel, was habe ich Dagon eigentlich getan, daß ich ständig die Drecksarbeit kriege, während die anderen...«
Ich hörte nicht mehr zu, sondern warf einen letzten Blick durch das Schlüsselloch in den Spiegel. Der Dürre stand neben der Tür, eine qualmende Zigarre zwischen den Lippen - was bei seinem Hungerleidergesicht absolut lächerlich aussah - und die Arme lässig vor der Brust verschränkt. Er stand so perfekt da, als hätte ich ihn dorthin gestellt.
Behutsam richtete ich mich auf, drehte den Türknauf, bis ich ein leises Klicken hörte - und trat mit aller Macht vor das Schloß.
Die Tür flog wie von einer Kanonenkugel getroffen auf, und ich hechtete in den Raum.
Es ist schwer, sich auf einen Gegner vorzubereiten, den man nicht sieht, aber ich hatte den Vorteil der Überraschung auf meiner Seite. Der zweite Mann stand am Fenster und hatte offenbar interessiert das Geschehen auf dem Marktplatz verfolgt. Jetzt wirbelte er herum und riß instinktiv die Fäuste hoch. Er kam nicht einmal dazu, die Bewegung zu Ende zu führen. Mit einer blitzartigen Rolle kam ich auf die Füße, boxte ihm in den Magen und schlug ihm die Handkante in den Nacken, als er sich krümmte. Noch bevor er auf dem Teppich aufschlug, wirbelte ich herum, um mich dem Dürren zuzuwenden.
Es war nicht mehr nötig.
Die Tür schwang, von der Wucht des Aufpralles zurückgetrieben und vibrierend wie das Blatt eines Fuchsschwanzes, wieder zu und gewährte mir den Blick auf ein Bild, das ich sicherlich genossen hätte, wäre die Situation etwas weniger ernst gewesen. Der Dürre stand noch immer so da, wie ich ihn im Spiegel gesehen hatte: mit verschränkten Armen, eine Zigarre im Mund und weit aufgerissenen Augen. Nur hatte sein Gesicht alle Farbe verloren, und die Zigarre war zu einem guten Stück in seinen Hals gekrochen, während der zermalmte Rest wie ein braune Blüte, aus der grauer Rauch und Funken quollen, zwischen seinen Zähnen hervorlugte. Dann kippte er nach vorne, stocksteif wie ein Brett und mit noch immer vor der Brust verschränkten Armen.
Hastig drehte ich mich wieder herum und beugte mich über Several. Sie war bei Bewußtsein und starrte mich an, aber in ihren Augen loderte ein Feuer, das mich schaudern ließ. Ich drehte sie vorsichtig herum, löste die Stricke, die ihre Handgelenke hielten, drehte sie wieder auf den Rücken und nahm ihr den Knebel aus dem Mund.
»Alles in Ordnung?« fragte ich.
Es war eine ziemlich dumme Frage, denn es war ganz und gar nichts in Ordnung, was ich sehr deutlich sah, aber Several nickte trotzdem, versuchte sich aufzurichten und sank wieder zurück, als ihre Arme unter ihrem Körpergewicht nachgaben. »Bleiben Sie liegen«, sagte ich. »Das Blut muß erst wieder richtig zirkulieren.«
»Jenny«, wimmerte Several. »Meine kleine Jenny. Sie... sie...«
»Was ist passiert, Several?« fragte ich. »Bitte - ich weiß, daß es schwer für Sie ist, aber ich muß wissen, was geschehen ist.«
Several schien meine Worte überhaupt nicht zu hören. Sie warf sich auf dem Bett hin und her und stammelte immer wie der den Namen ihrer Tochter.
Schließlich ergriff ich sie an den Schultern, drängte sie mit sanfter Gewalt auf das Bett zurück und legte die rechte Hand auf ihre Stirn, so daß ich mit Daumen und kleinem Finger ihre Schläfen umfaßte, und mein Zeige- und Ringfinger auf ihren geschlossenen Augen lagen. Ich war nervös, und es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren, aber es gelang mir immerhin, sanfte beruhigende Impulse in ihren Geist zu senden, und nach einigen Minuten beruhigte sich ihr rasender Herzschlag; ihr Atem begann allmählich wieder normal zu werden, und sie hörte sogar auf zu zittern. Aber wie beim erstenmal, als ich sie auf diese Weise vor einem Zusammenbruch bewahrt hatte, spürte ich auch jetzt, daß ich das Grauen in ihr nur betäubt, nicht etwa vertrieben hatte. Ich war nicht sehr erfahren in solchen Dingen. »Also«, begann ich von neuem. »Was ist geschehen, Several? Sind diese Männer gekommen und haben Ihre Tochter entführt?«
Several starrte mich eine Ewigkeit lang an, und ich begann schon zu befürchten, daß meine Hilfe diesmal umsonst gewesen war. Aber dann schüttelte sie den Kopf und stemmte sich mühsam auf die Ellbogen hoch.
»Jennifer«, sagte sie matt. »Sie... sie ist aufgewacht, Robert. Sie ist erwacht, nachdem Sie gegangen waren. Sie... sie ist erwacht. Aber sie war nicht mehr sie selbst. Sie war... o Gott, mein armes Kind. Diese Bestien! Was haben sie mit Jennifer gemacht?«
»Erzählen Sie«, bat ich.
Several nickte, setzte sich ein wenig weiter auf und warf einen raschen Blick auf den Bewußtlosen unter dem Fenster. »Sie ist aufgewacht, kurz... kurz nachdem Sie gegangen waren, Robert«, begann sie von neuem. »Sie... sie hat mich niedergeschlagen und ist weggelaufen. Und danach sind diese beiden gekommen, und... und noch andere. McGillycaddy und die anderen vom... vom Clan.« Sie stockte, als die Erinnerung an das Geschehene sie wieder zu übermannen drohte. In ihren Augen schimmerten plötzlich Tränen. Aber dann gab sie sich einen sichtbaren Ruck, sah auf und fuhr mit mühsam beherrschter Stimme fort: »Sie... sie haben mich geschlagen und gesagt, daß ich meinen Mann ermordet hätte und daß ich dafür büßen müsse. Dann haben sie mich hier heraufgebracht und sind wieder gegangen. Alle bis auf... bis auf die beiden. Aber McGillycaddy hat gesagt, daß sie wiederkommen wer den, sobald die Sonne aufgegangen ist, und daß... daß ich dann dafür bestraft werde, was ich getan habe.«
»Und... Ihre Tochter?« fragte ich vorsichtig.
»Sie ist fort«, murmelte Several. »Sie... sie ist wieder zu IHM gegangen, Robert.«
»IHM?«
»Zu Dagon«, schluchzte Several. »Ich weiß es, Robert. Sie gehört IHM. Sie hat es mir gesagt, ehe sie ging. Sie... sie ist ...«
Plötzlich warf sie sich zur Seite, vergrub das Gesicht in den Kissen und weinte; beinahe lautlos, aber sehr heftig. Diesmal ließ ich sie gewähren. Vielleicht war es besser, wenn sie ihren Tränen freien Lauf ließ.
Ich stand auf und kniete neben dem Dürren nieder. Several hatte gesagt, daß sie wiederkommen würden, wenn die Sonne aufging, was uns zu einer gewissen Gnadenfrist verhalf. Aber ich wollte sicher gehen. Und es gab da noch ein paar Punkte, die zu klären waren. Ich drehte den Kerl auf den Rücken, zwängte seine Zähne auseinander und grub so viel Zigarre aus seinem Mund, wie ich konnte. Er röchelte, rang keuchend nach Luft und spie halb aufgelösten Tabak aus. Sein Blick flammte vor Haß, als er mich ansah.
Als er die Hand hob, versetzte ich ihm eine Ohrfeige. Er versuchte kein zweites Mal, nach mir zu schlagen.
»Ich hoffe, wir verstehen uns jetzt«, grollte ich, wobei ich mir Mühe gab, so finster wie möglich dreinzublicken. »Dir passiert nichts, wenn du vernünftig bist. Wenn nicht...«
Ich sprach nicht weiter, aber das war auch nicht nötig. Unausgesprochene Drohungen sind meist wirkungsvoller als ausgesprochene. Der Dürre nickte hastig, spuckte ein weiteres Stück Zigarre aus und betastete mit den Fingerspitzen seine verbrannten Lippen. Wahrscheinlich würde er sich jetzt das Rauchen abgewöhnen, dachte ich spöttisch.
»Sie werden mir nun ein paar Fragen beantworten«, sagte ich.
»Werd' ich nicht«, sagte der Dürre trotzig. »Von mir aus schlagen Sie mich tot. Ich sage kein Wort.«
»Ach?« antwortete ich. Einen Moment lang blickte ich ihn nachdenklich an, dann zauberte ich ein gehässiges Grinsen auf meine Lippen. »Ich werde Sie nicht schlagen, mein Freund«, sagte ich freundlich. »Ich werde Sie nur fesseln und dann weggehen. Aber Mrs. Borden bleibt hier.«