Als ich den Mast erreichte, war er schon gute fünfzig Fuß über mir. Und er stieg wie von Sinnen weiter.
»McGillycaddy!« brüllte ich mit vollem Stimmaufwand. »Kommen Sie zurück! Das ist doch Selbstmord!«
Aber wenn McGillycaddy meine Worte über dem Grollen des Strudels und dem Heulen des Taifuns überhaupt hörte, so ignorierte er sie. Im Gegenteil - er sah zu mir herab, verzog das Gesicht zu einer Grimasse und verdoppelte seine Anstrengung noch. Der Wind warf ihn wild hin und her. Ich fragte mich, woher dieser Mann die Kraft nahm, sich überhaupt noch an dem feuchten Tauwerk zu halten.
Eine Sekunde später war ich ziemlich sicher, die Antwort am eigenen Leibe herauszufinden, denn ich sah etwas, was mich vor Schrecken zusammenfahren ließ.
Hoch über McGillycaddy stand eine schwarzgekleidete Gestalt in den Spieren, breitbeinig und so, als wäre der Höllensturm in Wahrheit nicht mehr als ein laues Lüftchen, aufrecht und nur mit einer Hand am Hauptmast Halt suchend. Ich schluckte einen Fluch herunter, versuchte mir einzureden, daß alles ganz einfach sei und gar nichts passieren konnte, wenn ich nur die Nerven behielt und nicht nach unten sah - und begann hinter McGillycaddy herzuklettern.
Wenn ich bedachte, daß ich es noch vor einer halben Minute für unmöglich gehalten hatte, war es sogar relativ einfach. Der Sturm versuchte mich abwechselnd in die Seile zu pressen und in die Tiefe zu reißen, das vom Regen hart und kalt gewordene Hanf des Tauwerkes riß meine Hände auf, und die Erschütterungen, die die Dagon beutelten, setzten sich bis in die Mastspitze hinein ort und gaben mir das Gefühl, auf einem tollwütigen Elefanten zu sitzen - aber ich kam von der Stelle, wenn auch langsamer als McGillycaddy und mit wesentlich weniger Eleganz.
Er erreichte den Schwarzgekleideten, als ich kaum die halbe Strecke hinter mich gebracht hatte. Beinahe.
Der Sturm beutelte mich weiter, und als wolle irgendein boshafter Windgeist verhindern, daß ich wirklich sah, was geschah, erbebte die Dagon in diesem Moment unter einem gewaltigen Hieb, der das Tauwerk unter meinen Händen in eine vibrierende Bogensehne verwandelte, die sich nach Kräften bemühte, mich nach Grönland zu schießen.
Im selben Moment erschien der Schatten hinter dem Drachenkrieger. Es ging unglaublich schnell, und ich hatte alle Hände und Füße voll damit zu tun, nicht wie ein lästiges Stäubchen von der Dagon ins Meer geschnippt zu werden. Ich sah nicht mehr als einen Schemen, der buchstäblich aus dem Nichts erschien und mit der Gestalt des Drachenkriegers verschmolz. Für eine Sekunde wurde aus den beiden Umrissen einer. Dann erscholl ein markerschütternder, gräßlicher Schrei, und der Drachenkrieger kippte wie eine achtlos fallengelassene Puppe nach hinten und verschwand lautlos in der Tiefe.
Aber so schnell er auch fiel, war er doch nicht schnell genug, daß ich nicht noch einen letzten Blick auf ihn erhaschen konnte.
Er hatte keinen Kopf mehr.
Sekundenlang blieb ich mit verkrampften Muskeln in den Tauen hängen, mit aller Macht gegen die Übelkeit und die grauenhafte Furcht kämpfend, die von mir Besitz ergreifen wollten. Als ich es endlich wieder wagte, die Augen zu öffnen und nach oben zu blicken, war die Spiere leer. Der Schatten, der den Drachenkrieger getötet hatte, war so blitzartig verschwunden, wie er aufgetaucht war.
Dafür entdeckte ich McGillycaddy, nur noch zwei, drei Yards unterhalb der Stelle, an der Necrons Krieger auf ihn gewartet hatte. Ich flehte zu allen mir bekannten Göttern, daß es nicht Shannon gewesen war, dessen Tod ich beobachtet hatte.
»Kommen Sie zurück, McGillycaddy!« schrie ich. »Es hat keinen Sinn mehr, sehen Sie das ein!«
McGillycaddy kletterte beharrlich weiter, zog sich mit einer tolpatschig wirkenden Bewegung auf die Spiere hinauf und versuchte aufzustehen. Mein Herz schien zu stocken, als ich sah, wie er mit seitlich ausgestreckten Armen auf die Spiere hinauslief und an ihrem Ende stehenblieb. Der Sturm schlug mit unsichtbaren Fäusten nach ihm. Er wankte, stand einen Moment in einer geradezu grotesk nach hinten gebeugten Haltung mit wild rudernden Armen und durchgedrückten Knien da, und fand sein Gleichgewicht im letzten Moment wieder. Wie von Sinnen kletterte ich weiter, dabei jede Sekunde selbst in Gefahr, von der unsichtbaren Hand des Sturmes vom Mast gepflückt und in die Tiefe geschleudert zu werden.
»McGillycaddy!« schrie ich immer wieder. »Kommen Sie zurück, um Gottes willen!«
Ich hatte seine Höhe fast erreicht, als er mich endlich zu bemerken schien. Mit einer wütenden Bewegung fuhr er herum, stieß ein zorniges Heulen aus und kam auf mich zugerannt, so schnell, als liefe er über eine vierspurige Chaussee, nicht über einen kaum handbreiten, noch dazu runden und vom Regen schlüpfrig gewordenen Balken. Er mußte den Verstand verloren haben.
Er sagte kein Wort, aber sein Gesicht war vor Haß und Zorn verzerrt, und auch als er den Mast - und somit mich - schon fast erreicht hatte, machte er nicht die mindesten Anstalten, auch nur langsamer zu laufen.
Ich sah seinen Tritt kommen und versuchte mich dagegen zu wappnen, aber ich hatte McGillycaddys Heimtücke wohl unterschätzt. Ich hatte damit gerechnet, daß er nach meinem Gesicht treten würde - was zwar verdammt schmerzhaft, aber nicht weiter gefährlich war, wenn man wußte, wie man einen solchen Angriff zu nehmen hatte.
Statt dessen trat McGillycaddy nach meinem Hals.
Im letzten Moment gelang es mir, den Kopf zur Seite zu drehen und dem Tritt so den größten Teil seiner Wucht zu nehmen, aber das reichte nicht aus. Sein Stiefel schrammte über meine Haut; mir wurde schwarz vor Augen. Ich bekam keine Luft mehr. Meine Finger lösten sich von den nassen Tauen, und plötzlich begann ich den Sog der Tiefe zu spüren.
McGillycaddy stieß ein triumphierendes Kreischen aus. »Jetzt bist du dran, Craven!« keuchte er. »Diesmal erledige ich dich. Und wenn es das letzte ist, was ich tue.« Er ließ ein wahnsinniges Lachen ertönen und trat abermals nach mir. Diesmal erwischte mich sein Fuß dicht über dem Auge, und der Schmerz explodierte wie eine Bombe in meinem Schädel und ließ mich ein wenig weiter auf den schwarzen Abgrund zugleiten, der sich hinter meinen Gedanken aufgetan hatte. Ich bekam noch immer keine Luft, und meine Hände begannen langsam, aber unbarmherzig, von ihrem schlüpfrigen Halt abzurutschen. Der nächste Tritt, den mir McGillycaddy versetzte, würde der letzte sein.
Aber er kam nicht.
Aus McGillycaddys Triumphschrei wurde ein überraschtes Keuchen, und plötzlich erkannte ich eine zweite, hoch aufgerichtete Gestalt hinter McGillycaddy.
Im ersten Augenblick dachte ich, es wäre das Ding, das den Drachenkrieger getötet hatte, aber dann flammte ein besonders greller Blitz in unmittelbarer Nähe der Dagon über den Himmel, und das blauweiße, schattenlose Licht gewährte mir einen Blick auf ein schmales, von dunklem Haar eingerahmtes Frauengesicht. Aber das war doch unmöglich!
»Du!?« McGillycaddy fuhr mit einem zornigen Keuchen herum und hob die Fäuste. »Was willst du hier?«
»Dich«, sagte Several Borden leise.
McGillycaddy keuchte, trat einen Schritt auf die schlanke Gestalt zu und blieb wieder stehen, als er ihrem Blick begegnete. Irgend etwas war darin, was ihn erstarren ließ, eine Entschlossenheit, die durch nichts mehr zu erschüttern war. Ein Ausdruck, wie er vielleicht nur in den Augen von Menschen zu finden ist, die mit ihrem Leben abgeschlossen und nichts mehr zu verlieren haben.
»Ich habe auf dich gewartet, McGillycaddy«, sagte Several. »Du wirst jetzt bezahlen. Für Jennifer, für meinen Mann, für Frane - für alle, die du umgebracht hast. Und für mich.« Sie machte einen Schritt auf McGillycaddy zu und hob die Hände. Ich begriff eine Sekunde zu spät, was sie vorhatte. »Nein!« brüllte ich. »Tun Sie es nicht, Several! Er ist es nicht wert!« Aber weder Several noch McGillycaddy hörten meinen Schrei. Mit einem sanften Lächern auf den Zügen trat Several auf McGillycaddy zu, umschlang ihn mit beiden Armen - und ließ sich zur Seite fallen.