McGillycaddy brüllte wie von Sinnen, klammerte sich mit beiden Händen in das Tauwerk, das den Mast umspannte, und versuchte Several mit dem Knie von sich zu stoßen. Er verlor den Halt. Sein rechter Fuß glitt auf dem schlüpfrig gewordenen Holz ab. Er fiel, rutschte auch mit dem anderen Fuß weg und hing für endlose Sekunden nur noch an den Händen. Ich glaubte, seine Knochen unter der Belastung ächzen zu hören. Und dann tat er etwas, was mich vor Schreck erstarren ließ. Er löste die linke Hand von ihrem Halt, ballte sie zur Faust - und schlug sie Several ins Gesicht. Für eine Sekunde hing er nur noch mit einer Hand in den Seilen, Severals und sein eigenes Gewicht mit einem einzigen Arm haltend.
Dann schlug er ein zweites Mal zu.
Severals Lippen öffneten sich zu einem letzten, lautlosen Schmerzensschrei. Und dann war sie verschwunden.
Lautlos stürzte sie in die Tiefe.
Ich schloß die Augen und wandte mich ab, als sie an mir vorüberfiel. Der Sturm stieß ein gellendes, fast triumphierendes Heulen aus, und für einen Moment erschien es mir, als klatsche der rollende Donner Beifall zu dem, was er sah.
Aber das furchtbare Geräusch, mit dem sie hundert Fuß unter mir auf das Deck der Dagon prallte, hörte ich trotzdem.
Jennifer saß mit steinernem Gesicht neben dem Leichnam ihrer Mutter, als ich das Deck wieder erreichte. Ein gnädiges Schicksal hatte sie so liegenlassen, daß die furchtbaren Verletzungen, die ihr der Sturz zugefügt haben mußte, nicht zu erkennen waren. Sie blutete nicht einmal. Aber der Ausdruck erstarrten Entsetzens auf ihren Zügen ließ mich schaudern.
Dicht hinter McGillycaddy trat ich neben sie. Meine Knie zitterten. Der Sturm hatte an Wucht gewonnen mit jedem Yard, den ich weiter in die Tiefe gestiegen war, und während der letzten Minuten hatte ich allen Ernstes damit gerechnet, mich zu Tode zu stürzen. Meine Hände bluteten, und meine Arme waren taub vor Anstrengung. Woher ich die Willenskraft genommen hatte, McGillycaddy nicht kurzerhand vom Mast zu werfen, wußte ich selbst nicht.
Jennifer war nicht die einzige, die McGillycaddy und mir an Deck gefolgt war. Ein gutes halbes Hundert Menschen war an Deck der Dagon gekommen, bildeten einen dichten, allseits geschlossenen Kreis um die Tote und ihre Tochter und schirmte sie vor den tosenden Winden ab. Niemand sprach, und als McGillycaddy und ich näherkamen, wich die Menge schweigend zur Seite und machte uns Platz. Aber ich sah das Entsetzen in ihren Gesichtern, die furchtbare Enttäuschung und die Angst, die nach ihren Herzen gegriffen hatte und jedes andere Gefühl betäubte. Natürlich - sie hatten den Strudel gesehen wie ich. Aber der Schrecken, den sie empfanden, mußte tausendmal schlimmer sein. Sie hatten ihrem Gott vertraut - und waren so grausam enttäuscht worden.
Jennifers Augen waren voller Tränen, als sie aufsah und erst mich und dann McGillycaddy anblickte. »Warum?« fragte sie leise. Ihre Stimme klang tonlos.
McGillycaddy schürzte trotzig die Lippen. »Du hast es doch gesehen, oder?« schnappte er. »Sie wollte mich umbringen.«
»Halten Sie den Mund, McGillycaddy«, sagte ich.
Der Schotte fuhr herum, starrte mich an und stemmte trotzig die Fäuste in die Hüften. »Warum sollte ich?« fragte er wütend. »Sie waren doch dabei, Craven. Sagen Sie ihr, wie es war. Sagen Sie ihr, daß...«
»Sie sollen den Mund halten!« sagte ich. Eine kalte, bodenlose Wut kroch in mir empor. Ich bin an sich kein jähzorniger Mensch, aber hätte er jetzt auch nur noch einen Ton von sich gegeben, hätte ich ihn umgebracht. McGillycaddy schien das zu spüren.
»Es tut mir leid, Jennifer«, sagte ich leise. »Ich... ich konnte nichts tun.« Jennifer versuchte zu lächeln, aber es mißlang. »Es war nicht Ihre Schuld, Robert«, sagte sie matt. »Sie... sie wollte sterben, glaube ich. Sie hat sich versteckt, um McGillycaddy aufzulauern, aber ich... ich dachte nicht, daß...« Sie sprach nicht weiter, sondern begann plötzlich heftiger zu weinen. Ich streckte die Arme aus, um sie beruhigend an mich zu ziehen, aber Jennifer wich mir aus, erhob sich plötzlich und deutete mit einer Kopfbewegung nach vorn.
»Was ist das?« fragte sie.
Für einen Moment war ich so betroffen, daß ich nicht einmal antworten konnte. Dann begriff ich. Der Strudel und der heulende Sturm interessierten sie nicht wirklich. Es war nur ihre Art, mit dem Schmerz fertig zu werden; ihn zu betäuben.
»Werden wir sterben?«
Eine einzige, endlose Sekunde lang starrte ich sie an, dann stand ich ebenfalls auf und sagte entschlossen: »Nein. Nicht, wenn ich es verhindern kann.«
Jennifer sah mich fragend an, aber ich sprach nicht weiter, sondern wandte mich um, riß McGillycaddy grob an den Rockaufschlagen in die Höhe und zerrte das Amulett aus seiner Tasche. Ohne ein weiteres Wort fuhr ich herum, stieß einen Mann beiseite, der nicht rasch genug Platz machte und stürmte zum Achterdeck hinauf.
Eine leise, bohrende Stimme hinter meinen Gedanken begann zu flüstern, daß es Wahnsinn war, was ich tun wollte, daß das Leben von zweihundert Menschen nichts war gegen das Leid und das Unheil, daß vielleicht über die Welt hereinbrechen würde, wenn Necron in den Besitz dieses Amulettes kam. Aber ich lief eher noch schneller. Zum Teufel - was scherte mich dieses »vielleicht«; ich war ein Mensch und keine Maschine, die nach streng logischen Gesichtspunkten entscheidet. Niemand konnte von mir verlangen, kaltlächelnd zuzusehen, wie zweihundert unschuldige Menschen einen grausamen Tod fanden! Ich erreichte das Achterdeck, drehte mich wieder zum Bug und bildete mit den Händen einen Trichter vor dem Mund.
»Shannon!«, schrie ich, so laut ich konnte. »Shannon, ich weiß, daß du mich hörst. Zeige dich! Ich will mit dir reden!«
Im ersten Moment erfolgte keinerlei sichtbare Reaktion. Dann bewegte sich etwas in den Schatten jenseits der wartenden Menge, und eine Gestalt, gekleidet in die Farben der Nacht und von schlankem Wuchs, trat auf das Deck des Schiffes heraus. Hinter ihm erschien ein zweiter Drachenkrieger, dann ein dritter, vierter, fünfter.
»Was willst du?« fragte Shannon.
Sekundenlang starrte ich ihn an, und wieder glaubte ich die flüsternde, drängende Stimme zu hören, die mir zuschrie, das Amulett lieber über Bord zu werfen, statt es diesen Männern auszuliefern. Ich ignorierte sie. So rasch ich konnte, lief ich die Treppe wieder hinunter und ging auf die fünf Schwarzgekleideten zu. Der Wind bauschte ihre Umhänge, und es sah aus, als bewegten sich die daraufgestickten Drachen ungeduldig. In Shannons Blick zeigte sich nicht das geringste Erkennen, als ich vor ihm stehenblieb. Es war kaum der Blick eines Menschen, dachte ich schaudernd, sondern der einer Puppe. Was immer Necron mit ihm gemacht hatte - er schien jedes bißchen freien Willen, jede menschliche Empfindung, jedes Erinnern aus seinem Bewußtsein getilgt zu haben. Aber schon seine nächsten Worte belehrten mich eines Besseren.
»Es ist lange her, Robert«, sagte er, sehr leise und in einem Tonfall, der irgendwie bedauernd klang.
»So lange, daß du alles vergessen hast?« fragte ich.
Shannon schüttelte kaum merklich den Kopf. »Ich habe nichts vergessen«, sagte er. »Nichts von dem Schmerz, den ich dir zu verdanken habe, Robert. Nichts von dem Entsetzen, das ich ertragen mußte, weil ich dachte, einen Freund in dir gefunden zu haben.« Er lächelte, aber es wirkte kalt. »Diesmal weiß ich, wer du bist, Hexer. Du bringst das SIEGEL?«
Ich nickte überrascht. »Woher...«
Shannon unterbrach mich mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Ich kenne dich, Robert«, sagte er. »Besser als du selbst vielleicht. Du bist keiner, der das Leben zweihundert Unschuldiger opfern würde aus rationalen Überlegungen heraus. Nicht einmal das eines einzigen.«