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»Und du?«

Shannon antwortete nicht, sondern streckte statt dessen fordernd die rechte Hand aus, und nach einem letzten, sekundenlangen Zögern trat ich auf ihn zu und ließ Andaras Amulett hineinfallen. Shannon hob es an die Augen, drehte es hin und her - und warf es mir mit einem zornigen Fauchen vor die Füße.

»Du beleidigst mich, Robert«, sagte er heftig. »Dieses Ding ist nutzlos für uns. Ein Stück Tand, nicht mehr. Glaubst du wirklich, mich so leicht hinters Licht führen zu können?«

Verwirrt bückte ich mich nach dem goldenen Stern, hob ihn auf und starrte abwechselnd ihn und Shannon an. »Aber das... das ist alles, was ich dir geben kann«, murmelte ich. »Ich sage die Wahrheit, Shannon! Ich weiß nicht, was du sonst...«

»Das SIEGEL!« unterbrach mich Shannon hart. »Wir sind hier, um das SIEGEL zu holen, Robert. Das erste der SIEBEN SIEGEL DER MACHT. Es befindet sich an Bord dieses Schiffes, und es ist mein Auftrag, es zu bringen. Das da«, er deutete auf das Amulett in meiner Hand, »ist es jedenfalls nicht.«

»Dann... dann weiß ich nicht, was du willst«, murmelte ich verstört.

Shannon sah mich einen Moment lang scharf an. Plötzlich nickte er. »Ich glaube dir, Robert«, sagte er. »Du bist niemand, der lügen würde, wenn das Leben anderer auf dem Spiel steht. Aber das SIEGEL ist hier. Dagon hat es an Bord mitgenommen, denn ohne es wäre dieses Schiff nutzlos für ihn. Wir werden es finden, oder niemand wird dieses Schiff lebend verlassen.«

»Aber ich weiß nicht einmal, wie es aussieht!« begehrte ich auf.

»Dann suche es«, sagte Shannon kalt. »Und beeile dich, Robert. Du hast nicht mehr viel Zeit.«

Ich starrte ihn an, atmete hörbar aus und deutete auf den Höllenstrudel, der sich vor dem Bug der Dagon drehte. »Ist das dein Werk?«

»Das meines Herren«, antwortete Shannon. »Er wird dieses Schiff vernichten«, murmelte ich.

Shannon nickte, so ungerührt, als sprächen wir über das Wetter, nicht über das Leben von zweihundert Männern, Frauen und Kindern. »Ja«, sagte er. »Dieses Schiff und alle, die an Bord sind. Es gibt kein Entkommen, Robert. Und du kannst dir die Mühe sparen, nach Rettungsbooten zu suchen. Selbst wenn es welche gäbe, würdet ihr dem Sog nicht entrinnen.« Er lächelte kalt. »Es sei denn, du findest das SIEGEL und bringst es mir.«

Das war gelogen, und Shannon wußte, daß ich die Lüge erkannte, das spürte ich im selben Moment, in dem er die Worte aussprach. Der Strudel würde das Schiff verschlingen; so oder so.

Trotzdem nickte ich, nachdem ich das Amulett wieder in der Tasche hatte verschwinden lassen. »Wieviel Zeit bleibt uns?«

»Nicht viel«, antwortete Shannon. »Knapp zwei Stunden.«

»Versprichst du mir, uns in Frieden zu lassen, bis... bis es soweit ist.«

Shannon nickte. »Wenn du das SIEGEL suchst, ja.«

»Keinen Toten mehr?«

»Keine Toten mehr, bis auf einen. Aber zweihundert, wenn du versuchst, mich zu betrügen, Hexer.«

Und jetzt - endlich - begriff ich.

Ohne ein weiteres Wort wandte ich mich um und ging zu der wartenden Menge zurück. Fragende Gesichter erwarteten mich, Augen, in denen eine bange Hoffnung glomm, und Lippen, die es nicht wagten, sich zu öffnen, um die Frage zu stellen, die allen auf den Zungen brannten.

Ich ignorierte sie alle, ging auf Jennifer zu und wies mit einer Kopfbewegung zur Treppe.

»Du hast gesagt, Dagon wäre geflohen«, sagte ich.

Jennifer nickte.

»Warst du dabei?«

Wieder nickte sie, und ich fuhr fort, so leise, daß außer ihr und McGillycaddy, der unmittelbar hinter ihr stand, niemand die Worte verstand: »Kannst du mir den Ort zeigen?«

Jennifer erschrak sichtlich, aber dann nickte sie ein drittes Mal, wenn ich auch sah, wie schwer es ihr fiel.

»Gehen wir«, sagte ich.

Er war verwirrt. Die Abgesandten des Feindes handelten nicht logisch. Er war bereit gewesen, einzugreifen, sollten sie versuchen, den Hexer zu töten. Aber sie hatten ihn nicht zu vernichten versucht, sondern ihm im Gegenteil geholfen. Niemandaußer ihm hatte es bemerkt, denn er war in der Lage, hinter dieDinge zu blicken und die wahre Absicht zu erkennen, aber derMann, der geschickt worden war, das SIEGEL zu holen und denSohn des Hexers umzubringen, handelte ganz klar gegen seinenBefehl.

Lautlos zog er sich wieder zurück, schlüpfte wieder in die Maske, in der er sich zeigen konnte, ohne Aufsehen zu erregen, wurde vom Ungeheuer zum Menschen.

Er wartete.

Die Kälte war hier unten fast unerträglich. Der Boden, über den wir gingen, schien unter unseren Schritten zu knistern, und jeder Atemzug brannte in meiner Kehle, als atmete ich kleingeriebenes Glas. Meine Finger waren so gefühllos geworden, daß ich kaum die Lampe halten konnte. Selbst das Licht, das sie verströmte, wirkte kalt.

»Das ist es«, sagte Jennifer leise. Ihre Stimme echote unheimlich in der kleinen Kammer, und die Wände, die mit einer hauchdünnen glitzernden Schicht aus Rauhreif überzogen waren wie mit einer eisigen Haut, schienen ein Teil ihres Klanges zu verschlucken, bis nur noch die dumpfen, düsteren Töne übrigblieben.

Es war keine wirkliche Kälte, die uns schaudern ließ, das spürte ich. Es war dieses Zeichen, auf das Jennifer deutete. Ein mannsgroßes, mit seltsamen Farben gemaltes Pentagramm auf dem Boden, genau im mathematischen Zentrum der Kammer. »Was soll das sein?« fragte McGillycaddy ungeduldig. Seine Stimme klang ebenso verzerrt und düster wie die Jennifers, aber anders als bei ihr hörte ich auch noch eine deutliche Spur von Furcht in seinen Worten. Im Grunde war McGillycaddy nichts als ein erbärmlicher Feigling.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Jennifer. »Er... er ist hineingetreten, und dann war er verschwunden. Da war ein Licht, und...« Sie brach ab, sah mich beinahe hilflos an und machte einen Schritt auf das magische Symbol zu. Hastig ergriff ich sie am Arm und zog sie zurück.

»Berühren Sie es nicht«, sagte ich warnend. Ich schob sie ein Stück zur Seite, bedeutete auch McGillycaddy und den beiden Männern, die uns begleitet hatten, zurückzuweichen, und näherte mich dem Pentagramm behutsam. Nichts geschah, als ich die düster flackernden Linien des fünfeckigen Sternes berührte. Ich spürte weder körperlich noch auf geistiger Ebene irgendeine Veränderung. Trotzdem wußte ich mit ziemlicher Sicherheit, was ich vor mir hatte.

Langsam ging ich bis zu seinem Zentrum, ließ mich in die Hocke sinken und tastete mit den Fingerspitzen über den Boden. Ich fühlte nichts als eisiges Holz. Aber meine Überzeugung, es mit nichts anderem als mit einem Tor zu tun zu haben, wuchs eher noch.

»Etwas fehlt«, murmelte ich. Beinahe ohne daß ich selbst es bemerkte, zog ich Andaras Amulett aus der Tasche und legte es ins Zentrum des Pentagramms. Aber die erhoffte Wirkung blieb aus. Das Tor blieb verschlossen.

»Ich wandte mich an Jennifer. Versuchen Sie sich zu erinnern« sagte ich. »Er muß irgend etwas getan haben. Irgendein Wort, ein Gegenstand, eine bestimmte Bewegung...«

Jennifer blickte mich an, schüttelte den Kopf - und fuhr plötzlich zusammen wie unter einem Hieb. Ihre Hand glitt in eine Tasche ihres Umhanges und förderte einen kleinen, grünglitzernden Stein zutage.

»Das hier habe ich gefunden«, sagte sie. »Es lag auf dem Boden.«

Ich stand auf, nahm ihr den Stein aus der Hand und betrachtete ihn eingehend. Er fühlte sich glatt wie Glas an und bestand aus einem grünlichen Material, in das verwirrende Symbole eingeritzt waren. Seine Form entsprach genau der des Pentagramms.

»Was ist das?« fragte McGillycaddy.

»Der Schlüssel«, antwortete ich. »Der Schlüssel, der das Tor öffnet.«