Und als er es merkte, war es zu spät.
Mit einem lautlosen Wutschrei versuchte er, seinen Geist aus den komplizierten Verstrickungen des Energienetzes zu lösen, das das Tor geöffnet hielt, um sich denen zuzuwenden, die ihn zu betrügen versuchten.
Es ging nicht.
Er war so erstaunt, daß er für einen Moment beinahe die Kontrolle über das Tor verlor und Gefahr lief, selbst mit hineingesaugt zu werden. Hastig stabilisierte er das filigrane Energiemuster wieder, konzentrierte sich und versuchte erneut, seinenGeist von dem Gebilde zu lösen.
Er konnte es nicht. Etwas hielt ihn fest, mit solcher Macht, daß sogar seine Macht nicht reichte, die Umklammerung unsichtbarer Energien zu sprengen.
Dann spürte er, was es war.
Andaras Amulett!
Der fünfstrahlige goldene Stern, den der Sohn des Magiers dort zurückgelassen hatte, wo das SIEGEL, der grüne Jadestein, den Craven jetzt bei sich hatte, liegen sollte. Er hatte ihn schon vorher bemerkt, ihm aber keinerlei Beachtung geschenkt, in dem sicheren Glauben, Robert Craven hätte ihn schlichtweg vergessen.
Jetzt begriff er, daß es nicht so war.
In die kochende Wut in seinem Innern mischte sich eine schwache Spur widerwilliger Bewunderung. Es kam selten vor, daß es einem anderen gelang, ihn zu täuschen, und nie zuvor war es einem Sterblichen gelungen, ihn über seine wahren Absichten im Unklaren zu lassen.
Bis jetzt.
Sein Zorn wurde stärker, aber er begriff auch, daß er hilflos war. Der Sohn des Hexers hatte dafür gesorgt, daß er das Tor so lange offenhielt, bis auch der letzte Mann von Bord war. Bis dahin mußte er sich gedulden.
Aber sein Zorn wuchs, mit jeder Gestalt, die in das flimmernde Pentagramm stieg und verschwand.
Es waren nicht mehr sehr viele.
Ich spürte, daß ich nicht lange bewußtlos gewesen sein konnte. Etwas Schweres lag auf mir, als ich erwachte, und der süßliche Geruch von Blut stieg mir in die Nase. Mühsam drehte ich mich so weit herum, bis ich die Hände unter den reglosen Körper schieben konnte, und wuchtete ihn von mir hinunter.
Ein blasser, grauer Lichtschein erfüllte den Gang. Das Gewicht, das auf mir gelegen hatte, war ein Körper gewesen, und der süßliche Geruch kam von dem Blut, das mein Gesicht und meine Brust besudelt hatte. Es war nicht mein Blut, und der reglose Körper war der eines Drachenkriegers, erschlafft im Tode, die Augen geöffnet und erfüllt von grenzenlosem Entsetzen.
Wenige Schritte hinter ihm lag ein zweiter Drachenkrieger - auch er war tot.
Stöhnend richtete ich mich auf, drehte mich herum und erblickte einen dritten Toten, auch er in das matte Schwarz der Drachenkrieger gekleidet und mit dem gleichen ungläubig-entsetzten Ausdruck in den Augen wie seine beiden Kameraden. Sekundenlang starrte ich die drei Toten an. Dann zog ich mein Taschentuch hervor und versuchte, mir das Blut aus dem Gesicht zu wischen. Erst dann bemerkte ich die vierte, völlig schwarz gekleidete Gestalt, die noch aufgerichtet am Ende des Ganges stand.
»Hast du sie getötet?« fragte ich leise.
Shannon nickte. »Ja.«
»Warum?«
»Sie hätten nicht gewartet«, antwortete Shannon. »Sie wollten deinen Tod und den der anderen.«
»Es... es waren deine Kameraden«, sagte ich stockend. Der Anblick der Toten erfüllte mich weder mit Erleichterung noch mit Triumph, sondern nur mit kaltem Entsetzen. Shannon fegte meine Worte mit einer Handbewegung beiseite. »Das waren sie nicht«, behauptete er. »Sie waren Männer, die demselben Herrn dienten wie ich. Nicht mehr. Hast du das SIEGEL?«
Ich nickte, griff in die Tasche und zog den kleinen, flimmernden Stein hervor, gab ihn Shannon aber noch nicht, sondern blickte sekundenlang auf das so harmlos aussehende Stück Kristall hinunter.
»War es das wert?« fragte ich leise.
Shannon trat einen Schritt auf mich zu und streckte fordernd die Hand aus. »Es ist eines der SIEBEN SIEGEL DER MACHT«, sagte er, als wäre das allein Erklärung genug. »Hundertmal mehr Menschen sind gestorben um den Besitz eines dieser SIEGEL willen. Gib es mir.«
Ich gehorchte. Shannon schloß die Hand um den Stein und ließ ihn beinahe achtlos in der Tasche verschwinden.
»Ich habe mein Wort gehalten«, sagte ich. »Hältst du deines auch?«
»Zweifelst du daran?« fragte Shannon.
»Nein«, antwortete ich. »Aber ich verstehe dich nicht. Warum bist du geblieben?«
»Aus demselben Grund, aus dem ich noch immer hier bin«, antwortete Shannon. Seine Stimme klang ein ganz klein wenig gereizt. Ich versuchte, auf geistigen Wegen mit seinem Bewußtsein Verbindung aufzunehmen, aber das Ergebnis war so, wie ich es erwartet hatte - als würde ich gegen eine Wand aus Stahl rennen.
Shannon verzog abfällig die Lippen. »Laß das, Robert«, sagte er. »Du weißt, wie sehr ich dir überlegen bin. Wir haben eine Abmachung. Ich werde bleiben, bis der letzte Mensch die Dagon verlassen hat. Aber versuche nicht, mich zu betrügen.«
»Das versuche ich nicht«, sagte ich hastig. »Ich... ich versuche nur herauszufinden, wer du eigentlich bist. Wir waren einmal Freunde, beinahe jedenfalls.«
»Freunde?« Shannon schüttelte den Kopf. »Das waren wir nie, Robert. Ich war schwach, und ich wurde dafür bestraft. Wir dienen verschiedenen Herren.«
»Dann sage dich von ihm los!« sagte ich heftig. »Necron wird dich benutzen, solange du ihm dienlich sein kannst, und dann töten. Komm zu mir. Ich... ich brauche einen Freund wie dich.«
»Das ist unmöglich, Robert«, sagte Shannon leise.
»Ich werde gehen, sobald deine Leute in Sicherheit sind. Ich muß es.«
Mit einer fast verzweifelten Geste deutete ich auf die drei Toten. »Necron wird dich vernichten, wenn er erfährt, was du getan hast!« sagte ich.
»Das wird er so oder so«, antwortete Shannon. »Es macht keinen Unterschied mehr.«
»Warum hast du das getan? Warum... warum stellst du dich gegen deine eigenen Leute, um dann noch zu ihm zurückzukehren? Das ergibt keinen Sinn!«
»Dieses Schiff wird zerstört werden, Robert«, antwortete Shannon leise. »Im selben Moment, in dem ich es verlasse. Nur die Anwesenheit des SIEGELS schützt euch noch vor dem Zorn dessen, den Necron entfesselt hat. Du hast den Strudel gesehen und den Sturm. Dies alles ist sein Werk. Und er kann tausendmal Schlimmeres tun. Ich mußte sie töten, um das Leben deiner Freunde zu retten.«
»Und du behauptest, auf der anderen Seite zu stehen?« Ich schrie die Worte fast. »Du stellst dich gegen deinen Herren und tötest deine eigenen Krieger, um uns zu retten, und du behauptest noch immer, auf Necrons Seite zu stehen? Komm zu uns, Shannon.«
Shannons Blick wirkte auf unbestimmte Weise traurig.
»Das kann ich nicht, Robert«, sagte er sanft. »Was ich getan habe, hat nichts mit Ungehorsam zu tun. Mein Auftrag war, das SIEGEL zu holen, nicht zweihundert Unschuldige zu töten. Ich werde gehen, sobald der Letzte von Bord ist. Es dauert nicht mehr lange.«
»Du wirst sterben, Shannon«, sagte ich.
»Vielleicht«, erwiderte Shannon. »Aber welche Rolle spielt ein Leben in dem Spiel, in das wir hineingezogen wurden, Robert? Diese Sache hier ist längst nicht mehr eine Angelegenheit der Menschen. Es ist ein Krieg der Götter, Robert.«
»Ein Krieg der Götterl« Ich spie die Worte beinahe aus. »Und geopfert werden Menschen, wie? Shannon, das kann nicht dein Ernst sein. Vernichte dieses verdammte SIEGEL und sage dich von Necron los, ich... ich flehe dich an!«
»Vernichten?« Shannon lächelte, als hätte ich etwas furchtbar Dummes gesagt. »Wie kann ein Mensch vernichten, was ein Gott schuf?« fragte er. »Die SIEBEN SIEGEL sind Dinge, die älter sind als unser Volk, Robert. Keine Macht dieser Welt kann sie zerstören.«