Eldekerk verstand sein Tun in diesem Punkt selbst nicht so recht. Im Grunde war er ein ganz vernünftiger Mann - wäre er es nicht gewesen, hätte er in seinem Leben als Weltenbummler und Abenteurer kaum ein so stattliches Alter erreicht, ohne mehr als zwei Finger und ein halbes Ohr einzubüßen -, und normalerweise hätte er um etwas, das derart fremd und bedrohlich wirkte, einen Bogen geschlagen, so groß wie der Wendekreis des Krebses. Überdies nahm er sich jeden Morgen, wenn er erschöpft und todmüde in seine kleine Hütte zurückkam und auf sein Bett fiel, fest vor, nicht noch einmal zur Küste hinunterzugehen.
Und jeden Abend, wenn die Zeit kam, brach er wieder auf. Es war wie ein Zwang, etwas, das stärker war als seine Vernunft und ihn immer wieder aufs neue dazu brachte, die lebensgefährliche Kletterei in Kauf zu nehmen, um den kleinen Felsüberhang über der Küste zu erreichen, von dem aus er der unheimlichen Prozession zusehen konnte. Und da war noch etwas.
Es war ihm unmöglich, darüber zu sprechen.
Gleich am ersten Morgen hatte er es versucht, an dem Morgen, der der Nacht folgte, in der er sich hierher verirrt und die bizarren Knochenboote zum erstenmal gesehen hatte. Er hatte versucht, mit seinen Freunden darüber zu reden und von dem Sonderbaren zu berichten, aber es war ihm nicht gelungen. Seine Kehle war wie zugeschnürt gewesen. Alles, was er hervorgebracht hatte, war ein albernes Kichern.
Der Wind drehte sich, fuhr raschelnd durch das dichte, tropische Unterholz, in dem Eldekerk Schutz gesucht hatte, und trug den düsteren Singsang, der das Erscheinen der Boote begleitete, für einen Moment stärker heran. Eldekerk schauderte. Das Geräusch erinnerte ihn an den dumpfen Wechselgesang mittelalterlicher Mönche, die ein Opfer zur Inquisition begleiten.
Eldekerk wußte nicht, warum - aber ganz genau das war das Bild, das seine Phantasie zu diesen Tönen erschuf.
Er versuchte die Vorstellung zu vertreiben, aber es gelang ihm nur zum Teil. Sie blieb und gesellte sich der Angst hinzu, die der Anblick des guten Dutzends niedriger Boote ohnehin in ihm wachrief.
Die sonderbare Prozession kam näher, so nahe, daß Eldekerk sie nun fast schon mit bloßem Auge als Schiffe erkennen konnte. Beim ersten Mal hatten sie kaum hundert Meter zurückgelegt, ehe sie verschwanden, am zweiten gut die doppelte Distanz, dann eine halbe Meile, eine ganze...
Eldekerk wußte nicht, was geschehen würde, wenn sie die Küste erreichten. Der Felssims, auf dem er lag, wuchs wie ein von der Hand der Natur erschaffener Balkon gute zehn, zwölf Yards ins Nichts hinaus, so daß er den dreißig Yards tiefer gelegenen Küstenstreifen nicht erkennen konnte. Aber er glaubte auch nicht, daß sie die Küste heute erreichen würden. Es gab zwei Dinge, die dagegen sprachen.
Das eine waren Eldekerks - zugegeben beschränkte - Mathematikkenntnisse. Er hatte versucht, die Strecke abzuschätzen, die noch zwischen der gespenstischen Flotte und der Küste lag, und die allabendliche Verdopplung des Weges, den sie zurücklegte. Wenn er sich nicht geirrt hatte, durften sie die Küste frühestens in der folgenden Nacht erreichen.
Das andere war der Mond.
Eldekerk war kein abergläubischer Mensch, ganz und gar nicht. Er wußte nur, daß es Dinge gab, die mit dem Wissen und der Logik der Menschen nicht unbedingt zu erklären waren. Diese Flotte und ihre gespenstischen Steuermänner gehörten dazu. Als Eldekerk sie das erste Mal gesehen hatte, war Neumond gewesen. Jetzt fehlte noch ein Fingerbreit, aus dem Mond ein vollkommen gerundetes, fettes Auge zu machen, das vom Himmel blinzelte.
Er war sehr sicher, daß die Gespensterflotte die Küste Kraka taus genau bei Vollmond erreichen würde.
Das erste Boot näherte sich der Stelle, die Eldekerk in Gedanken errechnet hatte. Hastig stemmte er sich auf die Ellbogen hoch, fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen, die vom langen angestrengten Starren zu schmerzen begonnen hatten, und setzte sein Fernglas wieder ab.
Der langgestreckte Schatten wuchs zu einem grotesken Boot heran, in dem ein noch groteskeres Wesen stand, das es mit einer langen, irgendwie lebendig aussehende Stange von der Stelle stakte. Aber Eldekerk hatte an diesem Abend weder einen Blick für das abstruse Knochengesicht des Mannes noch für sein seltsames Boot. Mit angehaltenem Atem und zitternd vor Spannung wartete er.
Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt.
Der Knöcherne stakte das Boot noch zehn, vielleicht zwölf Stöße weiter und zog seine Stange dann ein.
Einen Augenblick später begann das Boot zu verblassen.
Eldekerk hatte einmal zugesehen, wie ein Fotograf eine seiner Platten in ein Chemiebad legte und auf dem scheinbar leeren Stück Metall nach und nach ein Bild erschien wie aus dem Nichts. Der Vorgang, den er jetzt beobachtete, war genauso, nur umgekehrt. Langsam, als stehle eine unsichtbare Macht dem Schiff dort draußen seine Realität, löste sich das seltsame Gefährt auf. Seine Farben verblaßten. Es wurde durchsichtig, schien für einen kurzen Moment zu zerfließen wie ein Spiegelbild in klarem Wasser, in das jemand einen Stein geworfen hat - und war fort.
Das Fernrohr in Eldekerks Hand suchte das nächste Boot. Lautlos glitt es heran, erreichte die Stelle, an der das erste verschwunden war - und verblaßte ebenfalls.
Der Vorgang wiederholte sich noch ein gutes dutzendmal, dann war der Ozean wieder so leer wie vor dem Erscheinen der seltsamen Flotte, und auch die Lichterscheinungen und Geräusche waren verschwunden. Aber Eldekerk hatte genug gesehen. Er wußte jetzt, daß er sich nicht getäuscht hatte. Morgen, wenn der Mond aufging, würden sie die Küste erreichen.
Und er, Jop Eldekerk, würde dort unten sein, um auf sie zu warten.
Das Schiff war nicht besonders groß - ein Zweimastsegler von kaum hundertfünfzig Fuß Länge mit schmuddeliger Takelage, einem Rumpf, der unter dem Gewicht der Algen und Muscheln, die sich im Laufe der Jahre darangeklammert hatten, schier zu zerbrechen drohte, und einer Besatzung, die geradewegs aus einem Buch über die Piraten des siebzehnten Jahrhunderts entsprungen zu sein schien.
Und trotzdem war es für mich der schönste Anblick, den ich jemals gehabt hatte.
Aber vermutlich wäre es jedem an meiner Stelle so ergangen, wenn er sich unversehens fünfundzwanzig Yards unter der Wasseroberfläche wiedergefunden, mit letzter Kraft nach oben gestrampelt und - nachdem er wieder zu Atem gekommen war - festgestellt hätte, daß er sich mitten im freien Ozean und außer Sichtweite des nächsten Landes befand.
Wie viele Stunden ich in dem eisigen Salzwasser geschwommen war, wußte ich nicht, aber es mußten viele gewesen sein, denn als ich aufgetaucht war, hatte die Sonne nahezu im Zenit gestanden, und als ich das Segel der Van Helsing wie einen weißen Eisberg am östlichen Horizont auftauchen sah, neigte sich der Tag bereits dem Ende entgegen.
Ebensowenig, wie ich wußte, woher ich den Willen genommen hatte, mich immer wieder über Wasser zu halten, wenn meine Kräfte zu erlahmen drohten. Vielleicht war es auch nur Trotz gewesen - und wohl auch ein gut Teil Zorn. Nachdem ich meinen ersten Schrecken und das darauffolgende Entsetzen überwunden hatte, hatte ich eine Wut verspürt wie selten zuvor in meinem Leben. Was hatte mein geheimnisvoller Mitkämpfer gesagt, ehe er mich von Bord der dem Untergang geweihten Dagon rettete? Du hast mich betrogen, und wenn ich auch deine Gründe verstehe, so bin ich doch kein Gott, der vergibt. Wenn wir uns wiedersehen, werden wir Feinde sein.
Nun - was den zweiten Teil seiner Prophezeiung anging, wußte ich jetzt, daß er recht hatte. Jemanden dergestalt von Bord eines sinkenden Schiffes zu retten, indem man ihn mutterseelenallein mitten in den Pazifischen oder sonst einen Ozean schmeißt, ist eine höchst sonderbare Art der Lebensrettung. Wäre die Van Helsing nicht wie ein rettender Engel erschienen, wäre ich jämmerlich ersoffen.