»Wohin... bringen Sie... mich?« stöhnte ich. Die Welt begann sich um mich herum zu drehen. Mir wurde übel, und ich spürte, daß ich nun endgültig das Bewußtsein verlieren würde.
»An einen Ort, an dem Sie sich sicherlich wohl fühlen werden«, antwortete Tergard hämisch. »Sie wollten doch wissen, was das alles hier bedeutet, nicht wahr? Nun, mein lieber Craven, jetzt, nachdem ich so viel über Sie weiß, ist es nur fair, wenn auch Sie endlich aufgeklärt werden. Nur noch ein bißchen Geduld. Sie werden sehen, daß es sich lohnt. Und wer weiß - vielleicht sehen Sie sogar bald einen alten Freund wie der. Aber jetzt habe ich noch eine Kleinigkeit zu erledigen - mit Ihnen...«
Sein höhnisches Lachen verfolgte mich hinüber in den Bereich der Dunkelheit, als meine Sinne schwanden.
»Warum haben Sie das getan?« Eldekerks Stimme war fast ausdruckslos. Es fiel ihm schwer, überhaupt zu sprechen. Seit sie den Dschungel verlassen hatten und wieder in seinem Haus am Stadtrand waren, waren dies die ersten Worte überhaupt, die er sprach. Er wußte nicht einmal mehr wirklich, wie er zurückge kommen war. Nach dem brutalen Mord an den beiden Soldaten war er in eine Art Trance gefallen; ein Schock, der nicht seinen Körper, wohl aber seinen Geist lahmte. Es war weniger die unmenschliche Kälte, mit der Shannon gehandelt hatte, als vielmehr die völlig Sinnlosigkeit seines Tuns.
»Warum, Shannon?« fragte er noch einmal, als der Schwarzgekleidete nicht sofort antwortete. »Die beiden hätten uns helfen können.«
Statt einer Antwort ging Shannon zielsicher zu dem Wandschrank, in dem Eldekerk seinen schmalen Vorrat an Alkohol aufbewahrte, und kam mit einem randvollen Whiskyglas zurück.
»Trinken Sie«, sagte er, als er Eldekerk das Glas in die Hand drückte. Eldekerk starrte ihn an, schluckte nervös und setzte das Glas an die Lippen. Der Whisky war pur und brannte wie Feuer in seiner Kehle. Aber er half. Seine Hände hörten nach wenigen Augenblicken auf zu zittern, wenn auch in seinem Inneren jetzt, als die Lähmung allmählich von ihm abzufallen begann, ein wahrer Vulkan von Gefühlen tobte.
»Sie glauben also, die beiden hätten uns geholfen?« fragte Shannon ruhig. »Ich fürchte, das ist ein Irrtum, Mijnheer Eldekerk. Im Gegenteil. Ich habe sie getötet, weil sie uns sonst getötet hätten.«
»Aber das ist doch Unsinn«, widersprach Eldekerk, obwohl er zu spüren glaubte, daß Shannon die Wahrheit sprach. »Warum sollten sie uns töten?«
»Warum sollten sie überhaupt dort sein?« sagte Shannon anstelle einer Antwort. »Haben Sie sich das schon einmal überlegt? Es gibt dort oben absolut nichts von Interesse. Weder eine Ansiedlung noch einen strategisch wichtigen Punkt noch irgend etwas von Wert. Und die Garnison ist fast dreißig Meilen entfernt.« Er schüttelte den Kopf, nahm Eldekerk das leere Glas aus den Fingern und füllte es erneut. »Nein«, sagte er, als er zurückkam. »Diese beiden waren aus einem ganz bestimmten Grund dort oben, Eldekerk. Um nach uns Ausschau zu halten.«
»Nach uns?« murmelte Eldekerk ungläubig.
»Oder nach Männern wie uns«, schränkte Shannon ein. »Leuten, die zu neugierig sind und vielleicht Dinge entdeckt haben, die sie nichts angehen. Glauben Sie mir - die beiden hätten nicht gezögert, uns zu erschießen, wenn Sie ihnen gesagt hätten, was wir entdeckt haben.«
»Aber das ist doch Unsinn!« widersprach Eldekerk, allerdings mehr aus purer Gewohnheit denn aus Überzeugung.
»Die... die Garnison ist zu unserem Schutz da!«
»Glauben Sie?« fragte Shannon ruhig. »Und wenn ich Ihnen sage, daß diese sogenannte Garnison so viel mit der niederländischen Krone zu tun hat wie mit einem Maori-Priester?«
»Aber... aber wieso?« stammelte Eldekerk. »Was wollen Sie damit sagen, und... und was... mein Gott, Shannon - sie opfern Menschen dort untenl Was sollen wir tun, wenn uns nicht einmal die Garnison hilft?«
»Es gibt eine Möglichkeit«, antwortete Shannon so rasch, daß Eldekerk plötzlich sicher war, daß er nur auf dieses Stichwort gewartet hatte. »Aber ich brauche Ihre Hilfe, Jop. Hören Sie zu...«
Natürlich hatte ich es mir vorgenommen, und natürlich gelang es mir nicht: mir den Weg zu merken, den wir nahmen. Der Eselskarren verließ die Garnison und wandte sich nach Osten, direkt auf das steil aufstrebende, mehr als zweitausend Yards hohe Zentralmassiv der Insel zu, und schon nach kurzer Zeit verschlang uns der Dschungel.
Der Weg war ein besserer Trampelpfad, auf dem selbst das robuste Gefährt Schwierigkeiten hatte, durchzukommen, und die Kronen der gewaltigen Urwaldriesen vereinigten sich über unseren Köpfen zu einem verfilzten, nahezu undurchdringlichen Blätterdach, so daß der Karren oft wie durch einen Tunnel zu fahren schien, in dem das helle Sonnenlicht zu einem schwachen dunkelgrünen Schimmer gedämpft war.
Wir fuhren zwei Stunden, dann hielt Roosfeld an, sprang vom Bock hinunter und trat an meinen Käfig. In seinen Augen stand ein Ausdruck sadistischer Befriedigung, während er mich musterte. Langsam löste er eine Feldflasche von seinem Gürtel, zog den Korken mit den Zähnen heraus und nahm einen tiefen Zug. Seine Lippen glänzten feucht, als er die Flasche absetzte und mich wieder ansah.
»Hast du auch Durst?« fragte er.
Ich nickte. Roosfeld sprang einen federnden Satz zu mir hoch, hielt die Feldflasche dicht vor die Stäbe des Käfigs und grinste. »Nimm«, sagte er.
Ich starrte ihn durch die Gitterstäbe an. Die Handschellen hielten meine Arme fest, daß ich kaum die Finger bewegen konnte, geschweige denn nach der Flasche greifen. Und selbst wenn es mir möglich gewesen wäre, so wären die Abstände zwischen den Gitterstäben viel zu klein gewesen, um die Flasche hindurchzuziehen.
Roosfeld hielt die Flasche eine gute Minute lang vor mein Gesicht, dann zuckte er mit den Achseln, verkorkte sie wieder und schüttelte den Kopf. »Wenn du nicht willst«, sagte er.
»Aber das macht nichts. Es ist nicht mehr weit. Noch sieben, acht Stunden, und du kriegst so viel zu trinken, wie du magst.«
Er kicherte. »Ich weiß natürlich nicht, ob wir dir mit französischem Sekt dienen können, Craven.«
»Schwein«, sagte ich leise. Meine Lippen waren geschwollen und aufgeplatzt. Ich konnte kaum sprechen. Dennoch fügte ich - von einem fast kindlichen Trotz beseelt, von dem ich sehr wohl wußte, daß er mir nur schaden konnte, hinzu: »Dafür wirst du bezahlen, Roosfeld, das schwöre ich dir. Ich bringe dich um!«
Meine Drohung machte keinen sonderlichen Eindruck auf Roosfeld. »So?« sagte er. »Tust du das? Na, da bin ich gespannt, wie du das anstellen willst - mit gefesselten Händen und ohne Waffen.«
Zwei, drei Sekunden lang starrte ich ihn haßerfüllt an, dann schloß ich für einen Moment die Augen, zwang mich mit aller Gewalt zur Ruhe und raffte das letzte bißchen Kraft zusammen, das mir geblieben war. Mit aller Macht konzentrierte ich mich. »Sieh mich an, Roosfeld«, sagte ich.
Roosfeld grinste, blickte mir in die Augen - und erstarrte. Das Grinsen auf seinen Zügen gefror.
»Und jetzt«, fuhr ich fort, »mach den Käfig auf und binde mich los,« Ich unterstützte den Befehl mit aller suggestiver Macht, die mir verblieben war. Die körperlichen Schmerzen und das, was Tergard getan hatte, hatten auch an meinen geistigen Kräften gezehrt, aber für einen Mann von Roosfelds intellektueller Qualität würde der verbliebene Rest noch immer reichen.
Aber Roosfeld rührte sich nicht, sondern blickte mich weiter blöde an.
»Du sollst den Käfig aufmachen!« befahl ich. »Sofort.«
Roosfeld blinzelte, senkte die Hand auf den Schlüsselbund an seinem Gürtel - und trat einen halben Schritt vom Käfig zurück. Langsam, ganz langsam wandelte sich der geistlose Ausdruck auf seinen Zügen in ein widerwärtiges Grinsen. »Nein, Massa«, sagte er. »Roosfeld böser Junge. Roosfeld Hexer nicht gehorchen, sonst Roosfelds Freunde mit ihm schimpfen. Und das Massa nicht wollen, oder?«