»Das ist unmöglich.«
»Aber es muß sein!« Mit einer Kraft, von der ich selbst nicht mehr wußte, woher ich sie nahm, stemmte ich mich auf die Ellbogen hoch. »Sagen Sie ihm, daß Bruder Balestrano mich schickt.«
Der Arzt starrte mich an, öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen - und erbleichte. »Welchen... Namen haben Sie da genannt?« fragte er stockend.
»Balestrano«, wiederholte ich. »Spielen Sie nicht den Narren. Sie wissen ganz genau, wen ich meine. Das Oberhaupt eures Ordens.«
Der Mann zögerte noch einen Moment, drehte sich dann ohne ein weiteres Wort um und stürmte aus der Zelle.
Erschöpft sank ich auf mein hartes Lager zurück. Es war ein verzweifelter Versuch gewesen, aber er schien zum Erfolg zu führen. Der Name des Ordensoberhauptes der Tempelherren war eines der bestgehüteten Geheimnisse dieser Bruderschaft, wie ich wußte. Jemanden, der ihn kannte, konnte man einfach nicht ignorieren.
Es dauerte nicht lange, bis die Tür zu meiner Zelle ein weiteres Mal geöffnet wurde und der Mann eintrat, den ich schon draußen auf dem Hof gesehen hatte. Auf seinen Zügen lag ein halb erstaunter, aber auch alarmierender Ausdruck. Er wartete, bis die Wachen die Tür hinter ihm wieder geschlossen und von außen verriegelt hatten, dann trat er an meine Pritsche, setzte sich auf ihren Rand und sah mir in die Augen.
»Reden Sie«, sagte er einfach.
Es hätte nicht sehr viel gegeben, womit er mich in größere Verlegenheit hätte bringen können, denn außer dem Namen Balestranos wußte ich sehr wenig über die Templer; zumindest nichts, was mir im Moment weiterhelfen konnte. Und ich hatte das sichere Gefühl, daß meine nächsten Worte über mein weiteres Leben entscheiden konnten. Oder meinen Tod.
Mein Gegenüber nahm mir die Entscheidung ab. »Balestrano«, murmelte er. »Woher kennen Sie diesen Namen, Craven?«
»Ich kenne nicht mir diesen Namen«, antwortete ich. »Ich kenne ihn persönlich.«
»Ach?« sagte der Templer. Sein lauernder Ton hätte mich warnen müssen, aber ich war viel zu erschöpft, um auf solcherlei Feinheiten zu achten.
»Ich... ich stehe auf Ihrer Seite«, fuhr ich stockend fort. »Das müssen Sie mir glauben. Sie und ich kämpfen gegen dieselben Feinde. Ich weiß nicht, warum Tergard mich hierher geschickt hat, aber er begeht einen furchtbaren Fehler. Balestrano und ich sind Freunde. Ich... ich habe ihm das Leben gerettet. Er schuldet mir etwas. Und Sie...«
»Dieselben Feinde?« Der lauernde Ausdruck auf den Zügen des Templers verstärkte sich. »Wovon reden Sie, Craven?«
»Von den... den ALTEN«, antwortete ich verstört. »Vielleicht haben Sie einen anderen Namen dafür. Den GROSSEN ALTEN. Cthulhu und seine Bande und all die anderen.«
»Wir haben in der Tat einen anderen Namen für jene Wesen«, bestätigte der Templer. »Aber ich weiß, von wem Sie reden, Mister Craven.« Plötzlich wurde das Lächeln in seinen Augen eisig.
»Aber wer sagt Ihnen«, fuhr er leise fort, »daß wir gegen sie kämpfen?«
Ich starrte ihn an. Langsam, ganz langsam, aber mit furchtbarer Wucht, begann sich mir die Erkenntnis aufzudrängen, daß ich einen Fehler begangen hatte.
Einen furchtbaren Fehler.
Der Tempelherr starrte mich sekundenlang ausdruckslos an, dann stand er mit einem Ruck auf, wandte sich um und klatschte in die Hände. Die Tür wurde geöffnet, und die beiden Männer, die mich hergebracht hatten, betraten den Raum.
Der Mann in der Uniform der Tempelritter deutete mit einer Kopfbewegung auf mich. »Bereitet alles vor«, sagte er. »Er kommt nach unten. Noch heute nacht.«
Die Nacht war so still, daß Shannon meinte, seinen eigenen Herzschlag hören zu können. Vom nahen Dschungel her wehten die normalen Geräusche des Urwaldes herüber: das Rascheln des Windes in den Baumwipfeln, das gedämpfte Knacken und Huschen in den Zweigen, die Laute der Nachtjäger und ihrer Beute, das gelegentliche Knistern von Holz, wenn sich einer der tausend Jahre alten Baumriesen regte. Nichts von alledem schien hier real zu sein. Der schwarze Gigant hinter dem Lager beherrschte alles. Selbst die normalen Geräusche der Nacht und der Natur schienen ehrfurchtsvoll zu verstummen im Angesicht dieses Riesen aus Lava und erstarrter Unendlichkeit.
Shannon legte den Kopf in den Nacken und blinzelte zum Gipfel des Krakataus hinauf. Obgleich sich der Himmel mit schweren, tiefhängenden Wolken bezogen hatte und die Nacht fast völlig finster war, konnte er die nahezu waagerecht abgeschnittene Spitze des Berges deutlich erkennen; eine mit Feuer gezeichnete Linie, über der der Himmel zu brennen schien. Je nachdem, wie der Wind stand, konnte man die Hitze des im Moment vielleicht schlafenden, aber keineswegs erloschenen Feuers im Inneren des Berges selbst hier unten spüren wie die Berührung einer warmen, unsichtbaren Hand.
Shannon konzentrierte sich wieder auf die äußere Begrenzungsmauer des Lagers, die wie ein noch tieferer Schatten vor dem Schwarz des Lavahanges emporragte. Dann und wann blitzte ein Licht hinter ihren Zinnen auf, und manchmal drangen die leisen Schritte der Wachen an sein Ohr, die dort oben in der Nacht patrouillierten.
Er gab sich keinen Illusionen hin. Selbst für ihn würde es schwer - wenn nicht unmöglich - sein, unbemerkt in diese Festung einzudringen. Mit den Männern dort oben war nicht zu spaßen, denn sie waren nicht die Halsabschneider und Mörder, als die sie den meisten anderen wegen ihres bewußt zerlumpten Äußeren erschienen wären, sondern Krieger. Männer, die genau wie er ein Leben lang zu dem einzigen Zweck ausgebildet worden waren, zu kämpfen.
Shannon wartete, bis eine Wolke am Mond vorbeizog und die ohnehin schlechte Sicht nahezu auf Null herabsank, dann erhob er sich hinter dem Felsen, hinter dem er Deckung gesucht hatte, und huschte, geduckt und lautlos, auf die Festungsmauer zu. Geschickt umging er dabei die beinahe unsichtbar angebrachten Stolperdrähte und Fallen, die das Nahen eines Fremden verraten sollten, preßte sich dicht neben dem Tor an die Wand und lauschte minutenlang mit geschlossenen Augen. Die Schritte des Postens kamen näher und entfernten sich wieder, ohne zu stocken, ohne daß ihr Rhythmus anders gewesen wäre als normal. Shannon lauschte gebannt, denn er wußte, daß sich etwas im Schritt des Mannes verändert hätte, hätte er von seinem Hiersein gewußt, ganz gleich, wie sehr er sich beherrschte und in welchem Maße er sich Mühe gab, sich nichts anmerken zu lassen.
Als der Posten vorbei und seine Schritte in der Nacht verklungen waren, war Shannon sicher, daß ihn bisher niemand entdeckt hatte. Lautlos richtete er sich auf, suchte mit Fingern und Zehen festen Halt in den Fugen der Wand und kletterte geschickt in die Höhe.
Dicht unterhalb der Zinnen verhielt er, reglos wie eine übergroße vierbeinige Spinne, und wartete erneut.
Minuten vergingen. Dann kamen die Schritte des Postens abermals näher. Shannon wartete, bis der Mann unmittelbar über ihm angelangt war, dann raffte er alle Kraft zusammen, federte in die Höhe und setzte mit einem Salto über die Zinnen hinweg.
Der Wächter kam nicht einmal mehr dazu, einen Schrei auszustoßen. Shannons Fuß traf sein Kinn mit der ganzen Wucht seines Sprunges und brach sein Genick.
Shannon fing den Toten auf. Vorsichtig ließ er ihn zu Boden gleiten, sah sich rasch nach beiden Seiten um und streifte dem Toten dann die zerlumpte Jacke ab, in die er gekleidet war. Hastig zog er das Kleidungsstück an, hob den Toten in die Höhe und warf ihn über die Mauer. Der Aufprall des reglosen Körpers dröhnte wie ein Kanonenschlag in Shannons Ohren, aber er war sicher, daß der Wind und die Nacht das Geräusch verschlucken würden.
Noch einmal sah er sich um, um sicher zu gehen, daß niemand auf ihn aufmerksam geworden war, dann lief er - schnell, um die Zeit, die er mit dem kurzen Kampf verloren hatte, auszugleichen - in die gleiche Richtung weiter, in die der Wächter gegangen war, und reduzierte sein Tempo dann auf das des normalen Rundganges des Postens. Nach einer Weile erreichte er das Ende der Mauer. Wie er gehofft hatte, tauchte auf der anderen Seite des Wehrganges ein zweiter Posten auf. Der Mann hob die Hand zum Gruß, blieb einen Moment lang stehen und wandte sich um.