Er wartete, bis der Wächter über ihm ein weiteres Mal vorbeigegangen war und seine Schritte verklangen, dann lief er los, geduckt und die langsam wandernden Schatten der Wolken als Deckung ausnutzend. Als der Posten das nächste Mal vorbeikam, war er längst mit dem Schatten einer der Baracken verschmolzen.
Shannons Blick glitt suchend über die scheinbar gleichförmigen Gebäude, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. Es war das einzige Gebäude, in dem noch Licht brannte, und es war - obgleich auf den ersten Blick kein Unterschied zu bestehen schien - nicht ganz so verfallen und verdreckt wie die anderen Baracken.
Lautlos überquerte er den Platz, wartete das nächste Vorübergehen des Postens ab und richtete sich auf, das Ohr dicht gegen das rohe Holz der Tür gepreßt. Das Haus war nicht leer. In dem Raum hinter der Tür unterhielten sich zwei oder mehr Männer; er hörte das Klirren von Glas, dann das Scharren hölzerner Stuhlbeine auf festgestampftem Lehmboden, das Rascheln von Stoff.
Mit einer entschlossenen Bewegung drückte Shannon die Türklinke nach unten und trat ein.
Direkt neben der Tür stand ein Mann, sehr groß in der zerlumpten Kleidung, wie sie die Wächter trugen, ein Gewehr in den Händen und eine zerkaute Zigarre im Mundwinkel. Ihm gegenüber, auf einem Stuhl, dessen Scharren Shannon gehört hatte, saß ein weiterer Mann, in eine blaue Uniform gekleidet und mit einem bandagierten Arm.
Auf der anderen Seite des Zimmers, mit lässig vor der Brust verschränkten Armen, ein Gewehr mit einem aufgepflanzten Bajonett neben sich stehend, lehnte ein zweiter Wächter an der Wand. Shannon brauchte weniger als eine Sekunde, dies alles zu erfassen und zu handeln.
Der Posten neben der Tür starb, ohne die Gefahr auch nur wirklich zu erfassen. Sein Kamerad auf der anderen Seite des Zimmers reagierte um eine Winzigkeit schneller - und falsch. Vielleicht hätte er eine Chance gehabt, hätte er den Sekundenbruchteil genutzt und sich in Sicherheit gebracht, denn nicht einmal ein Mann wie Shannon vermochte an zwei Orten gleichzeitig zu sein. So aber versuchte er nach seiner Waffe zu greifen, um den Eindringling zu erschießen.
Er kam nicht mehr dazu, das Gewehr ganz zu heben. Shannon federte mit einem kraftvollen Satz über den Tisch hinweg, schlug seine Arme nach unten, riß ihm das Gewehr aus den Händen und stieß mit dem Bajonett zu. Der Mann sank zu Boden.
Shannon wirbelte herum und hob das Gewehr, schoß jedoch nicht. Ein Schuß hätte das ganze Lager alarmiert, und gegen eine zwanzig- oder mehrfache Übermacht hätte wohl auch er keine Chance gehabt. Und selbst wenn - er war nicht hier, um ein Blutbad anzurichten, sondern aus einem anderen Grund. So zog er die Waffe dem verbliebenen Mann blitzschnell über den Schädel.
Dann war der Kampf schon wieder vorbei. Mit zwei, drei schnellen Schritten war Shannon bei dem Mann, den er niedergestochen hatte.
Der Templer war bei Bewußtsein, doch er würde sterben, in weniger als einer Minute.
Zeit genug für Shannon, alles von ihm zu erfahren, was er wissen wollte..
Die Höhle war so groß wie ein unterirdischer Dom und vom blutroten Widerschein brennender Lava erfüllt. Die Hitze war unbeschreiblich. Die Luft, die ich atmete, schien zu brennen. Ich war schweißgebadet. Das Licht war so grell, daß es mir die Tränen in die Augen trieb, als ich versuchte, das gegenüberliegende Ufer des zischenden Lavasees zu erkennen, an dessen Ufer mich der Gesichtslose abgesetzt hatte.
Trotzdem sah ich nicht weg, sondern zwang meine schmerzenden Augen, weiter offen zu bleiben, denn es mochte sein, daß es lebenswichtig für mich war, mir den Weg zu merken. Der Schacht hatte nicht sehr weit in die Tiefe geführt - zehn, im Höchstfalle fünfzehn Yards, bis er sich plötzlich zu einem gewaltigen klaffenden Riß erweitert hatte, der die Decke des unterirdischen Domes spaltete.
Mein dämonischer Begleiter hatte mich sanft wie eine Feder abgesetzt und war verschwunden, ohne daß ich zu sagen gewußt hätte, wohin oder auf welche Weise, denn während der ersten Momente waren meine Augen von dem lodernden roten Schein hier unten dermaßen geblendet gewesen, daß ich so gut wie blind war.
Als ich wieder sehen konnte, waren die anderen gekommen - ganz normale Menschen wie ich, keine knöchernen Dämonenwesen, aber Menschen in einem wahrhaft bemitleidenswertem Zustand. Es war ein gutes halbes Dutzend Männer, das mich umringt und mir auf die Füße geholfen hatte.
Keiner von ihnen konnte mehr als hundert Pfund wiegen.
Sie waren nicht etwa zwergenwüchsig oder verkrüppelt, aber auf eine Weise ausgemergelt, wie ich es niemals zuvor bei lebenden Menschen gesehen hatte. Ihre Gesichter waren so eingefallen, daß sich die Haut über den Knochen spannte und sie eher wie Totenschädel aussahen denn wie die Gesichter lebender Menschen. Ihre Haut war unter den verkohlten Lumpen, die sie trugen, narbig und von Pusteln und eiternden Geschwüren übersät, und viele von ihnen trugen häßliche, zum Teil noch nicht verheilte Brandwunden, die ein deutliches Zeugnis davon abgaben, daß sie schon sehr lange hier unten leben mußten.
Obwohl sie zu sechst waren, erfüllte mich ihr Anblick eher mit Mitleid als mit Schrecken. Selbst in meinem momentanen Zustand wäre ich vermutlich mit ihnen fertig geworden, hätte ich einen Fluchtversuch gewagt.
Aber ich wagte ihn nicht. Ich zweifelte nicht daran, daß der Knöcherne nicht allzu weit entfernt war und eingreifen würde, sollte ich ernsthaften Widerstand leisten. Und selbst wenn es mir gelungen wäre, zu fliehen - wohin sollte ich wohl gehen? Ich befand mich mitten in den Eingeweiden eines aktiven Vulkans, und der einzige Weg nach draußen, den ich kannte, begann dreißig Yards über meinem Kopf. Unerreichbar.
So ließ ich es also geschehen, daß mich meine bizarre Eskorte am Ufer des Lavasees entlangtrieb, obgleich der glühende Atem der Lava meine Haut versengte und mir die Tränen in die Augen trieb.
Wir umrundeten den See aus flüssigem Stein. Als wir uns der jenseitigen Höhlenwand näherten, sah ich, daß sie keineswegs so massiv war, wie es von weitem den Anschein gehabt hatte - in der titanischen Wand aus schwarzverbrannter Lava klafften zahllose Risse und Spalten, viele davon groß genug, um der Eingang zu anderen Höhlen oder Stollen sein zu können. Aus manchen drang düsteres rotes Licht, das mir sagte, daß das feurige Blut des Berges auch jenseits der steinernen Barriere kochte. Meine Bewacher trieben mich auf einen dieser Risse zu, blieben jedoch stehen, kurz bevor wir ihn erreichten. Einer von ihnen bedeutete mir mit einer befehlenden Geste zu warten, wechselte ein paar Worte in einer mir nicht geläufigen Sprache mit seinen Kameraden und verschwand geduckt in dem anschließenden Gang.
Schon nach wenigen Augenblicken kam er zurück, begleitet von einem zweiten, etwas weniger ausgemergelten Burschen, der mit raschen Schritten auf mich zutrat, die Hand unter mein Kinn legte und meinen Kopf hin und her drehte, um mich zu mustern wie ein Pferdehändler ein Tier, das ihm zum Kauf angeboten wird.
Wäre ich ein Pferd gewesen, hätte er mich wahrscheinlich nicht gekauft, denn seine Reaktion schien mir alles andere als erfreut. Ich verstand die Sprache, in der er und die Hungerleidertypen sich unterhielten, nicht, aber der Tonfall und die zornigen Gesten, mit denen er seine Worte begleitete und immer wieder auf mich deutete, sagte mir genug. Einen Moment lang schien beinahe so etwas wie ein Streit zwischen ihm und den Männern, die mich hergebracht hatten, zu entbrennen, dann beendete er die Diskussion mit einer heftigen Geste, packte mich an der Schulter und stieß mich mit erstaunlicher Kraft vor sich her.
Das halbe Dutzend Männer blieb hinter uns zurück, als wir in den Gang eindrangen. Der Stollen war nicht künstlich geschaffen, sondern durch unterirdische Spannungen im Fels entstanden, denn seine Wände waren unregelmäßig geformt und roh; von der Decke hingen messerscharfe Stalaktiten aus Lava, und ein paarmal klafften im Boden finstere Risse, die mein neuer Bewacher behutsam umging. Aus einigen davon drangen flackerndes rotes Licht und Hitze.