Schließlich war er ein Magier, und seine eigenen Kräfte wurden noch verstärkt durch die seines Herrn, die sich mit den seinen verbunden hatten.
Shannon trat einen halben Schritt zurück, richtete sich auf und schloß die Augen. Als er die Lider wieder hob, hatte sich die Welt für ihn verändert.
Hell und dunkel waren vertauscht. Wo gerade noch Licht gewesen war, wogten Schatten in den verschiedensten Abstufungen von Grau und Schwarz, und der hellodernde Schacht hatte sich in ein finsteres Loch verwandelt, das Schwärze verstrahlte.
An seinem Grunde pulsierte ein Licht. Es war nicht größer als Shannons Faust, strahlte aber mit der Helligkeit einer winzigen Sonne, zuckend wie ein dämonisches Herz und eingesponnen in ein Netz heller, scheinbar sinnlos ineinander verstrickter Linien, die, wie Shannon wußte, aus purer Energie bestanden, den unbekannten Kräften der Natur, die die Unwissenden Magie nannten.
Und er spürte, daß das Etwas dort unten um seine Anwesenheit wußte.
Nervös fuhr sich Shannon mit der Zungenspitze über die Lippen, atmete hörbar ein und aus und konzentrierte sich abermals.
Licht und Dunkel kehrten sich abermals um, die Farben waren wieder so, wie sie sein mußten, und der lodernde Stern magischer Energien verblaßte zu einem finsteren schlagenden Herzen, das von der roten Lavaglut verschlungen wurde.
Hinter ihm wurde die Tür geöffnet. Nacheinander betraten drei Männer den Raum, dann wurde die Tür geschlossen und ein Riegel vorgelegt. Shannon rührte sich nicht, sondern stand weiter reglos da. Nur auf seinen Lippen lag ein angespannter, beinahe verkrampfter Ausdruck.
Zwei der drei Männer traten neben ihn und nahmen ihn in die Mitte, während der dritte den Schacht umrundete, auf seiner gegenüberliegenden Seite stehenblieb und langsam die Arme hob. Seine Lippen begannen Worte aus einer Sprache zu murmeln, die älter war als das Leben auf dieser Welt.
Das rote Licht am Grunde des Schachtes begann sichtbar stärker zu pulsieren, fast als antworte es auf die gemurmelten Beschwörungen. Shannons Stirn begann sich mit Schweiß zu bedecken. Sein Lippen bebten stärker.
Am Grunde des Schachtes erschien ein Schatten, zerfasert und inmitten des grausamen roten Lichtes aufgelöst wie in Säure, stieg höher und nahm dabei mehr und mehr Form an, bis er zur boshaften knöchernen Karikatur eines Menschen geworden war, der schwerelos über dem brennenden Abgrund schwebte und Shannon aus nicht vorhandenen Augen anstarrte. Schließlich drehte er sich zu dem Tempelherrn in der roten Robe um und hob beinahe anklagend die Hand.
»Was willst du?« fragte er.
Shannon unterdrückte mit aller Macht ein Stöhnen. Seine Knie begannen zu zittern. Die Anstrengung ließ seinen Atem schneller gehen. Aber er durfte sich nicht bewegen, wenn er eine Chance haben wollte!
»Verzeiht, wenn wir dich ein zweites Mal rufen«, sagte der Templer demütig. Sein Gesicht war unbewegt wie immer, aber das Funkeln von Angst in seinen Augen war zu einem lodernden Feuer geworden. »Wir bringen den THUL SADUUN ein zweites Opfer«.
»Und wieder nur eines«, versetzte der Knöcherne. »Du hast mehr versprochen. Du kennst das Abkommen!«
Der letzte Satz klang eindeutig drohend, und der Templer fuhr sich nervös mit der Hand über das Kinn und wich dem Blick des Knöchernen aus.
»Sobald die Sonne aufgeht«, versprach er. »Wir halten unser Wort. Nimm diesen einen, um den Hunger deiner Herren zu stillen, und sage ihnen, daß wir bald mehr bringen.«
»Gut«, antwortete der Knöcherne mit seiner furchtbaren, unmenschlichen Stimme. »Dieser eine mag genügen für den Augenblick. Doch nicht länger! Haltet Wort, denn ihr wißt, wie unersättlich die THUL SADUUN in ihrem Hunger sind!«
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich herum, streckte die Hände aus und hob Shannon so spielerisch in die Höhe, als wäre er gewichtslos.
Sein Griff tat weh. Shannon biß die Zähne aufeinander, um einen Schmerzlaut zu unterdrücken, und kämpfte verzweifelt darum, seine Konzentration aufrecht zu halten. Der Knöcherne hob ihn hoch und begann langsam in die Tiefe zu sinken. Es dauerte weniger als eine Minute, bis sie den Grund der Höhle erreichten, die unter dem Schacht klaffte, aber für Shannon schienen Ewigkeiten zu vergehen. Als ihn der Knöcherne absetzte, taumelte er vor Erschöpfung, verlor den Halt und fiel kraftlos auf die Knie. Die Höhle begann sich vor seinen Augen zu drehen. Die Anstrengung, das Trugbild der drei Männer aufrecht zu erhalten, war fast über seine Kräfte gegangen. Aber es war ihm gelungen, den Unheimlichen zu täuschen.
Sekundenlang blieb er zitternd und in Schweiß gebadet hocken und wartete, bis sich seine Kräfte wieder regeneriert hatten. Dann richtete er sich auf.
Er war nicht mehr allein. Der Knöcherne war verschwunden, aber dafür war ein halbes Dutzend Männer erschienen, die Shannon jetzt schweigend umringten. Einen Moment lang überlegte er, ob er sie töten sollte, verwarf den Gedanken aber wieder. Er würde noch früh genug kämpfen müssen; je länger er die Herren dieses chthonischen Labyrinthes in dem Glauben ließ, ein willenloser Sklave wie alle anderen zu sein, die hier heruntergebracht wurden, desto größer waren seine Chancen, sein Ziel zu erreichen.
Aber es schien, als hätte Shannon seine Feinde unterschätzt, denn er hatte diesen Gedanken kaum gedacht, als die sechs Männer wie auf ein gemeinsames Kommando hin beiseite wichen und der Knöcherne wieder auftauchte. Seine Bewegungen wirkten schneller, irgendwie aggressiver als bisher.
»Du!« sagte er, während er mit seiner vierfingrigen Spinnenhand auf Shannon deutete. »Bleib stehen.«
Shannon tat so, als gehorche er, ganz das hypnotisierte willenlose Opfer, das all die anderen gewesen waren, die die Templer hier hinunterschickten, aber seine Konzentration reichte nicht mehr. Für eine Sekunde glaubte er, rauchige Linien aus grauem Licht zu sehen, die aus einem unsichtbaren Zentrum unter der Höhlendecke herauswuchsen und die gigantische Felskuppel durchzogen. Eine davon endete zwischen den Schulterblättern des Knöchernen.
»Dieser Mensch ist ein Verräter«, krächzte der Unheimliche. »Vernichtet ihnl«
Shannon reagierte einen Sekundenbruchteil vor den Männern. Als sie vorstürzten, tat er so, als wiche er zurück, steppte im letzten Moment zur Seite und ließ den ersten über sein vorgestrecktes Bein stolpern. Blitzartig wirbelte er herum, schlug einen weiteren Mann nieder und hebelte einen dritten aus, so daß er wie ein lebendes Geschoß durch die Luft flog und dabei zwei weitere seiner Kameraden von den Füßen riß. Der letzte verbliebene Gegner ergriff lautlos die Flucht, als sich Shannon herumdrehte.
Shannon sah den Hieb kommen, aber nicht einmal seine Reaktion reichte aus, ihm vollends auszuweichen. Die Spinnenhand des Knöchernen traf ihn wie ein Keulenschlag, riß ihn von den Füßen und ließ ihn meterweit über den Boden schlittern, geradewegs auf den Rand des zischenden Lavasees zu. Im letzten Moment fand er Halt an einer Felszacke, nutzte seinen eigenen Schwung, um wieder auf die Füße zu kommen, und fuhr herum.
Der Knochenmann drang lautlos auf ihn ein, mit erhobenen Armen und die Finger gespreizt.
Shannon duckte sich unter einem wütenden Hieb weg, packte den linken Arm des Knöchernen und riß mit aller Macht daran. Gleichzeitig traf sein Fuß das Knie des unheimlichen Angreifers.
Der Knöcherne taumelte an ihm vorüber, fiel auf die Knie und rang mit wild rudernden Armen um sein Gleichgewicht. Shannon ließ die Hand los, drehte sich mit einem gellenden Schrei blitzartig einmal um seine Achse und schlug mit der ganzen Wucht der Drehung zu.
Ein trockenes Knacken erklang. Der gesichtslose Schädel des bizarren Wesens begann zu zittern, neigte sich zur Seite - und fiel nach unten.