»Wo liegt dann die Schwierigkeit?« fragte ich.
Diesmal war es Howard, der antwortete. »Du kennst sie, Robert. Du hast selbst schon mitten drin gesteckt. Hätte Rowlf dich nicht befreit...« Er sprach nicht weiter, aber das war auch nicht nötig.
»Diese... Masse, in der das Schiff steckt?«
Howard nickte. »Ja. Wir wissen nicht, was es ist, und wir wissen nicht einmal, wie Dagon es lenkt - wenn er das überhaupt tut -, aber es wird uns nicht so viel Zeit lassen. Es erschien vor vier oder fünf Stunden und begann das Schiff ein zuhüllen.«
»Was tut es?« fragte ich. »Außer harmlose Passanten aufzufressen?«
Howard lächelte flüchtig. »Das wissen wir nicht. Ich glaube nicht, daß es sich um ein denkendes Wesen handelt, wenn es das ist, was du meinst. Es... es scheint eine Art Protoplasma-Masse zu sein, die nichts anderes tut, als sich fortzubewegen und zu fressen. Es greift die Schiffshülle an.«
Ich starrte ihn an. »Aber der Rumpf der NAUTILUS ist aus Stahl!« keuchte ich.
»Und trotzdem greift ihn dieses Zeug an«, sagte Nemo düster. »Am Heck, wo die Panzerung dünner ist, sind bereits einige kleinere Lecks entstanden. Noch halten unsere Schotten, aber ich weiß nicht, wie lange noch. Ich befürchte, uns bleiben nicht mehr als zwei, allerhöchstens drei Stunden. Wenn überhaupt.«
»Und was tut ihr dagegen?« fragte ich, an Howard gewandt.
Howard sah mich ernst an. »Wir haben versucht, etwas zu tun, Robert«, sagte er leise. »Gleich als wir es bemerkten. Hast du die Toten draußen gesehen?«
Ich nickte.
»Es war ein halbes Dutzend meiner besten Männer«, murmelte Nemo. »Wir haben alles ausprobiert - Sprengstoff, Gift, Messer, Dieselöl - alles, was Sie sich denken können. Aber was immer diese Masse darstellt - sie scheint völlig unempfindlich gegen jede bekannte Waffe zu sein.«
Einen Moment lang sah ich ihn an, dann hob ich demonstrativ meinen bandagierten Arm in die Höhe. »Nicht ganz«, sagte ich. »Sonst würde ich wohl kaum noch leben.«
»Die Säure?« Howard schüttelte resigniert den Kopf. »Vergiß es, Junge. Sie tötet die Masse zwar ab, aber wir haben nicht genug, um ihr auch nur ernsthaften Schaden zufügen zu können. Das, was Rowlf dabei hatte, war unser gesamter Vorrat.«
»Wovon?« fragte ich.
»Königswasser«, erklärte Howard. »Hast du schon einmal davon gehört?«
Ich schüttelte den Kopf, und Howard fuhr mit einer Kopfbewegung auf meinen Arm hin fort: »Du kannst von Glück sagen, daß du nur einen tausendfach verdünnten Spritzer abbekommen hast. Es ist die gefährlichste Flüssigkeit, die es überhaupt gibt. Salzsäure ist das reinste Erfrischungsgetränk dagegen. Außer Glas zerstört es alles. Aber wir haben nicht genug davon.«
»Und auch keine Möglichkeit, sie herzustellen?«
»Die NAUTILUS ist ein Unterseeboot, kein schwimmendes Chemielabor«, sagte Nemo gereizt. Dann lächelte er und fuhr sich mit einer fahrigen Geste durch das Gesicht. »Entschuldigen Sie, Robert«, sagte er. »Ich bin... nervös.«
»Schon gut.« Ich richtete mich weiter auf, schwang vorsichtig die Beine vom Bett und atmete erleichtert auf, als es mir gelang, die Füße auf den Boden zu setzen, ohne daß mir schwindelig oder übel wurde. »Was habt ihr jetzt vor?« fragte ich.
»Es gibt noch ein oder zwei Dinge, die wir versuchen werden«, antwortete Howard. »Fühlst du dich kräftig genug, uns in den Salon zu begleiten?«
»Natürlich.« Ich lächelte zuversichtlich, stand auf und wäre prompt auf die Nase gefallen, hätte mich Rowlf nicht aufgefangen.
»Soll ich dir tragen?« fragte er grinsend.
Ich schenkte ihm einen bösen Blick und schlug seinen Arm beiseite.
Mühsam bückte ich mich nach der trockenen Hose, die auf einem Stuhl neben dem Bett hing, schlüpfte hinein und angelte nach dem dazugehörigen Hemd, gab den Versuch, es mit nur einem Arm überzustreifen, aber schon bald wieder auf. Ich fröstelte. Zum erstenmal fiel mir auf, wie kalt es hier drinnen war.
Nemo stand ebenfalls auf und half mir, das Hemd über die Schultern zu hängen. Ich bedankte mich mit einem Kopfnicken, wandte mich an Howard und wies mit der unverletzten Hand zur Tür. »Wir können«, sagte ich.
Die See war noch ruhiger geworden, obgleich Lawrence dies vor einer halben Stunde noch für unmöglich gehalten hätte. Der grauschwarze Ozean lag jetzt glatt wie ein See aus geschmolzenem Pech da, und selbst die Bugwelle, die die mit voller Kraft laufende King George hinter sich herschleppte, schien viel kleiner und müder zu sein, als normal gewesen wäre. Und es war still, unheimlich still. Das rhythmische Dröhnen der gewaltigen Maschinen im Rumpf des Schiffes schien das einzige Geräusch auf der ganzen Welt zu sein. Nicht einmal das Klatschen der Wellen war zu hören.
Dafür war der Nebel dichter geworden. Und es war der sonderbarste Nebel, den Lawrence jemals erlebt hatte.
Er bewegte sich. Es war nicht so, daß ihn der Wind vor sich hertrieb - das war schlechterdings unmöglich, denn es wehte kein Wind - aber er schien sich auf fast magische Weise im gleichen Tempo von der King George zu entfernen, in dem der Kreuzer ihm näherzukommen versuchte; eine große, an den Rändern zerfaserte Wolke, die vom Himmel gefallen schien und auf dem Meer tanzte. Und in ihrem Zentrum, als wäre dieser graue Schleier ein schützender Schirm, den es um sich herum errichtet hatte, befand sich das Schiff.
Obgleich sie nähergekommen waren, vermochte es Lawrence noch immer nicht richtig zu erkennen. Er sah nur, daß es groß war, unglaublich groß, und daß es sich trotz seiner gigantischen Ausmaße mit erstaunlicher Eleganz und Leichtigkeit bewegte. Und völlig lautlos.
»Sir?«
Lawrence wandte den Blick, als er die Stimme seines Adjutanten hörte. »Was gibt es denn, Stayley?« fragte er ungeduldig.
Er war nervös wie alle hier auf der Brücke; wie alle auf dem Schiff. Aber er war der einzige, der dies nicht zeigen durfte.
»Ich glaube, wir holen langsam auf«, sagte Stayley.
Lawrence nickte. Während der letzten Minuten war der Abstand zwischen der King George und dem geisterhaften Schiff spürbar geringer geworden. Lawrence wußte nicht, ob das daran lag, daß ihre modernen Maschinen dem Dutzend seltsam gezackter Segel, das an den drei riesigen Masten prangte, überlegen waren, oder ob der Kapitän des anderen Schiffes wollte, daß sie ihn einholten. Er wußte vor allem nicht, welche Möglichkeit ihm lieber gewesen wäre, hätte er eine Wahl gehabt.
»Ich weiß«, antwortete er knapp. »Wir halten unser Tempo.« Damit wandte er sich um, blickte noch einmal zu dem verschwommenen Schatten weit vor der King George hinüber und verließ dann mit energischen Schritten die Brücke.
Die kalte Nachtluft schien ihm wie eine eisige Hand ins Gesicht zu schlagen, als er die schmale Eisenleiter zum Deck hinunterging. Zwei Matrosen, die ihm entgegenkamen, salutierten eilfertig, aber Lawrence bemerkte es nicht einmal, sondern stürmte grußlos an ihnen vorüber und eilte zum Bug.
Die beiden gewaltigen Buggeschütze der King George schienen wie mahnend ausgestreckte Riesenfinger auf den tanzenden Schatten zu deuten, als Lawrence das vordere Ende des Schiffes erreichte. Ihm war mit einem Male kalt, und jetzt, als er nicht mehr das schützende Glas des Brückenfensters zwischen sich und dem gewaltigen Schiff hatte, fühlte er sich auf sonderbare Weise ausgeliefert und schutzlos. Irgend etwas körperlos Drohendes umgab das Schiff.
Er hob seinen Feldstecher und fingerte sekundenlang nervös an der Feineinstellung herum, aber das Ergebnis war immer das gleiche; der monströse Schatten kam zwar näher, aber er wurde nicht deutlicher. Es war, als wäre außer dem Nebel noch etwas zwischen ihm und diesem Schiff, etwas, das aufs Gründlichste verhinderte, daß er es genauer erkennen konnte. Plötzlich schien ein deutlicher Ruck durch den Schatten zu gehen, und als Lawrence sein Glas senkte, sah er, daß die Nebelwand ein gutes Stück nähergekommen war und jetzt schnell auf die King George zuglitt. Das fremde Schiff hatte seine Geschwindigkeit abermals gedrosselt.