Ich wollte antworten, aber in diesem Moment schoß ein dünner, heftiger Schmerz durch meine Brust. Hastig hob ich meine Tasse mit kalt gewordenem Kaffee und versuchte, mich dahinter zu verkriechen. Shannon mußte nicht sehen, in welch schlechtem Zustand ich mich noch immer befand. Er war dazu fähig, auf eigene Faust loszugehen und mich zurückzulassen.
»Und wie willst du es tun?« fragte ich gepreßt.
»Was? Das SIEGEL vernichten?«
Ich nickte, und Shannon antwortete: »Es ist leicht, Robert. Magie hat es geschaffen, und Magie wird es wieder zerstören.«
»Gerade hast du das Gegenteil behauptet«, antwortete ich. Es fiel mir schwer, zu sprechen. Der dünne Schmerz in meiner Brust nahm nicht ab, sondern im Gegenteil zu. Mein Herz begann schneller zu schlagen. Was, zum Teufel, geschah mit mir?
»Es ist leicht, es zu vernichten, verglichen mit der Mühe, die es kosten würde, es zu brechen«, antwortete Shannon. »Auch Necrons Macht reicht längst nicht dazu aus, Robert. Er ist nur ein Werkzeug. Wenn er alle sieben SIEGEL in seinem Besitz hat, dann...«
Der Schmerz in meiner Brust explodierte. Ein weißglühender Draht schien sich direkt in mein Herz zu bohren. Ich fuhr wie unter einem Peitschenhieb zusammen, versuchte zu schreien und bekam nur ein Stöhnen heraus. Die Kaffeetasse fiel aus meiner Hand und polterte zu Boden.
»Stell dich nicht so an«, sagte Shannon scherzhaft. »So schlecht ist mein Kaffee nun auch wieder nicht.«
Seine Gestalt begann vor meinen Augen zu verschwimmen. Ich keuchte, sackte haltlos zur Seite und fiel zu Boden, von Qualen geschüttelt und noch immer unfähig, auch nur den geringsten Laut hervorzubringen. Ich hörte, wie Shannon ein erschrockenes Keuchen ausstieß und so heftig aufsprang, daß sein Stuhl umfiel, fühlte mich plötzlich an der Schulter gepackt und herumgerissen, aber vor meinen Augen waren nichts als wogende rote Schemen, und der glühende Draht, der in meinem Herzen wühlte, wurde zu einer weißglühenden Schwertklinge. Ein neues Gefühl gesellte sich zu dem Schmerz: ein Druck, der wuchs und wuchs und wuchs, bis ich glaubte, mein Herz wäre eine stählerne Feder, die bis zum Zerreißen gespannt war. Ich bekam noch immer keine Luft.
Shannon fiel neben mir auf die Knie, packte mich beim Kragen und schüttelte mich wild. »Robert!« schrie er. »Was ist los?«
Ich versuchte zu sprechen, aber ich konnte es nicht. Verzweifelt hob ich die Hände, klammerte mich wie ein Ertrinkender an Shannon fest und stieß erstickte Laute aus.
»Ma... gier«, krächzte ich. Woher ich die Kraft nahm, überhaupt zu sprechen, begriff ich selbst nicht. Der Druck auf mein Herz stieg noch immer an. »Majunde. Der... der Zauberer ...«
Und endlich begriff Shannon. Hastig hob er mich in die Höhe, setzte mich wie eine Puppe auf den Stuhl zurück, preßte die linke Hand auf meine Stirn und legte die andere mit weit gespreizten Fingern auf meine Brust, als wolle er mein Herz umfassen.
Der Schmerz erlosch, aber nicht sofort, wie die Male zuvor, als ich die unheimliche heilende Macht von Shannons Händen gespürt hatte, sondern nur langsam, zögernd und widerwillig, als würde in meinem Inneren ein verbissener Kampf ausgefochten. Ich sah, wie sich Shannons Gesicht vor Anstrengung verzerrte und Schweiß auf seine Stirn trat. Die unsichtbare Feder in meiner Brust spannte sich weiter - und war verschwunden.
Mit einem erleichterten Keuchen sank ich nach vorn, prallte mit dem Gesicht auf die Tischplatte und rang nach Atem. Mein Herz hämmerte, und jeder einzelne Pulsschlag tat weh, unglaublich weh. Aber der glühende Draht war aus meinem Herzen verschwunden.
»Der Magier«, stöhnte ich. »Er... er bringt mich um, Shannon. Er tötet mich.«
Shannon antwortete, aber ich verstand seine Worte nicht, denn in meinen Ohren war plötzlich ein dumpfes, an- und abschwellendes Rauschen, das ich erst nach endlosen Sekunden als das Geräusch meines eigenen Blutes identifizierte.
Erst als mich Shannon reichlich unsanft in die Höhe riß und mich zwang, ihn anzusehen, zerriß der erstickende Schleier, der sich um meine Gedanken gelegt hatte. Mühsam schob ich seine Hände beiseite, hielt mich an der Tischkante fest und preßte die Hand auf die Brust. Shannons Gestalt begann sich vor meinen Augen zu verbiegen und verdrehen, als betrachte ich sie durch einen Zerrspiegel. Der Geschmack nach salzigem Blut war in meinem Mund. Ich hatte mir auf die Zunge gebissen, ohne es überhaupt zu merken.
»Was hast du damit gemeint - der Magier?« fragte Shannon.
»Er hat versucht, mich umzubringen, Shannon«, murmelte ich. Was war los mit ihm? Er hätte den magischen Angriff so deutlich spüren müssen wie ich - schließlich waren seine Kräfte nicht durch einen Bann gelähmt. Aber ich war noch viel zu verstört, um den Gedanken konsequent zu Ende zu verfolgen. »Ich weiß nicht, was er tut, aber es war... es war das gleiche wie gestern Nacht.«
Einen Moment lang blickte mich Shannon unsicher an, dann wandte er sich um und wollte aus dem Zimmer stürmen. Ich hielt ihn zurück.
»Ich komme mit dir.« Der Gedanke, allein hier zurückzubleiben und womöglich einem zweiten Angriff des Majunde-Zauberers hilflos ausgeliefert zu sein, ließ mich innerlich frösteln.
Shannon lachte. »Red keinen Unsinn«, sagte er. »Du kannst doch kaum stehen. Du wartest hier, bis ich zurück bin. Ich werde mir den Burschen vorknöpfen.«
»Ich begleite dich«, sagte ich entschieden. »Schließlich hat er mich angegriffen, nicht dich.«
Diesmal widersprach Shannon nicht mehr.
Das Lager hatte sich verändert, als wir aus dem Haus stürmten. Die Majunde hatten sich zu kleinen Gruppen zusammengefunden und Feuer entzündet, über denen sie mitgebrachte Lebensmittel erhitzten, und hier und da hatte sich einer auf dem nackten Boden ausgestreckt und schlief. Shannon deutete auf Yo Mai, der zusammen mit einer Handvoll Majunde-Krieger am Tor stand und ganz offensichtlich in eine erregte Diskussion verstrickt war. Wir eilten zu ihnen, und Shannon riß den Majunde grob an der Schulter herum, ohne auf die drohenden Blicke der anderen zu achten.
»Wo ist euer Magier?« schnauzte er.
Yo Mai blickte ihn einen Moment unverstehend an. »Unser Magier?« wiederholte er. »Warum? Was willst du von ihm?«
»Nichts«, fauchte Shannon. »Aber ich habe das Gefühl, er will etwas von uns.« Zornig deutete er auf mich. »Um ein Haar hätte er meinen Freund hier umgebracht, Wilder! Wo ist er?«
»Ich... weiß es nicht«, gestand Yo Mai verwirrt. »Ich werde ihn suchen.« Er wandte sich an die Männer, die im Halbkreis um uns standen, und wechselte ein paar rasche Worte im Dialekt des Stammes mit ihnen. Sie entfernten sich. Dann drehte er sich wieder zu Shannon um. Die Verwirrung war aus seinen Zügen gewichen und hatte allmählich aufkeimendem Zorn Platz gemacht. »Was bedeutet das alles?« fragte er. »Ihr habt unser Wort, daß wir uns nicht in eure Dinge mischen.«
»Deines vielleicht«, sagte Shannon wütend. »Aber euer Hinterhofzauberer schert sich einen Dreck darum. Wäre ich nicht dabeigewesen, wäre Robert jetzt tot.«
Yo Mai erschrak sichtlich, sah mich einen Moment verunsichert an und schüttelte ein paarmal den Kopf, als könne er nicht glauben, was er hörte.
Nach einer Weile kehrten die Eingeborenen zurück, die er weggeschickt hatte, um nach dem Magier zu suchen. Und sie kamen allein. Es war nicht schwer, den Ausdruck auf ihren exotisch geschnittenen Gesichtern zu deuten.
»Er... ist nicht mehr da«, sagte Yo Mai stockend, nachdem er mit seinen Leuten gesprochen hatte. »Ich verstehe das nicht!«
»Was soll das heißen, nicht mehr da?« schnappte Shannon. Seine Wut - die ich noch immer nicht verstand - war keineswegs besänftigt, sondern schien durch die Worte des Majunde eher noch weiter angestachelt zu werden.