»Was soll das heißen, später?«
»Wir bleiben nicht hier«, antwortete Shannon, während seine Hände bereits geschickt über meinen Leib huschten und hier und da verharrten. Es tat weh, aber ich biß tapfer die Zähne zusammen.
Shannon schüttelte den Kopf. »Du siehst schlimm aus«, sagte er. »Bist du geschlagen worden?«
Seine Worte weckten die Erinnerung an Roosfeld wieder in mir; mein Gesicht verdüsterte sich. Aber es war weniger die Erinnerung an die körperlichen Mißhandlungen als vielmehr die Erniedrigung, die mich aufstöhnen ließ, als Shannons Finger weiter über meine geprellten Rippen tasteten.
»Wer war es?«
»Ein Mann namens Roosfeld«, antwortete ich und fügte, mit einem etwas verunglückten Lächeln, hinzu: »Er hat mir wohl den verrenkten Arm übelgenommen.«
Shannon sah auf. »Ein ziemlich großer Mann mit einem Schlägergesicht und einer Narbe über dem Auge?« fragte er. Ich nickte überrascht. »Du kennst ihn?«
»Ich... bin ihm begegnet«, antwortete Shannon ausweichend. »In den nächsten Wochen wird er niemanden mehr so zurichten. Wenn er's überlebt. Keine Sorge.«
Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was Shannon mit seinen Worten meinte. Und als es mir klar wurde, erschrak ich. Shannons Worte waren so kalt und gefühllos, als spräche er über einen Käfer, den er zertreten hatte. Einen Moment lang zweifelte ich beinahe daran, daß dies wirklich der Shannon war, den ich kennengelernt zu haben glaubte. Der junge Magier, der mir in Arkham und später noch einmal in Amsterdam das Leben gerettet hatte, war vielleicht mein Feind gewesen. Aber trotz allem ein Mensch voller Wärme und Freundlichkeit. Kein eiskalter Zyniker.
Aber dann verscheuchte ich den Gedanken. Es war lange her, seit wir das letzte Mal als Freunde miteinander geredet hatten. Und Shannon hatte nicht darüber gesprochen, aber ich ahnte, daß das, was Necron ihm angetan hatte, schlimmer sein mußte als die paar Schläge, die ich von Roosfeld erhalten hatte. Es gibt für jeden Menschen eine Grenze, jenseits derer er einfach zerbricht. Vielleicht war Shannon ihr zu nahe gekommen.
»Halt jetzt still«, sagte er. »Es wird weh tun. Aber danach fühlst du dich besser.«
Er stand auf, legte die linke Hand auf mein Herz und spreizte die Finger der Rechten, um sie auf mein Gesicht zu legen. Ich kam nicht mehr dazu, ihn zu fragen, was er vorhatte.
Er hatte recht - es tat weh, höllisch weh sogar, aber hinterher fühlte ich mich keineswegs besser.
Jedenfalls nicht sofort.
Ich wurde erst einmal ohnmächtig.
Die Hitze der Erde war hier unten deutlicher zu spüren. Wie ein erstickender Hauch drang sie aus dem Boden, ließ die Luft knistern und zähflüssig wie heißen Sirup werden und überzog die Grate und Risse der geborstenen Lava mit einer unsichtbaren, schmierigen Schicht.
Und etwas an ihr hatte sich verändert. Sie schien... aggressiver geworden zu sein. Drängender. Drohender.
Dagon war sicher, sich die Veränderung nicht nur einzubilden. Alles hier war anders geworden, auf eine nicht greifbare, düstere Art bedrohlicher und lebensfeindlicher.
Aber er wußte auch den Grund dieser Veränderung. Die Zeit rückte heran. Bald würde das Tor aufgestoßen werden, hinter dem Sie seit Jahrmillionen warteten, geduldig und zeitlos wie die Unendlichkeit, aus der sie vor Äonen gekommen waren, um zusammen mit ihren Herren diesen kleinen Stern am Rande der Galaxis zu besitzen. Noch war es nicht soweit, aber der Tag rückte heran, und bald schon würde er die Stunden zählen können, bis der Augenblick der Erfüllung gekommen war. Wenn die THUL SADUUN erwachten!
Dagon hatte Angst vor jenem Moment. Er gab es nicht zu, nicht einmal sich selbst gegenüber, aber tief in seinem Inneren fürchtete er den Augenblick ihres Erwachens, denn einst hatte er sie betrogen, und er war nicht ganz sicher, ob sie es ihm wirklich danken würden, daß er bereute und nun alles tat, ihnen zu helfen, aus ihrem Kerker zwischen den Dimensionen zu entkommen. Möglicherweise würden sie ihn bestrafen.
Er vertrieb den Gedanken und wandte sich wieder an das bizarre Wesen, das zu treffen er hergekommen war.
Die Gestalt ähnelte einem Menschen, aber es war eine Ähnlichkeit, die nur einer oberflächlichen Musterung standgehalten hätte. Sie war groß, über die Maßen schlank und schimmerte, als wäre sie aus poliertem, schimmerndem schwarzem Holz oder Horn gefertigt. Wo ihr Gesicht sein sollte, befand sich nur eine ebene, vollkommen glatte Fläche. Winzige Spritzer erstarrter Lava klebten auf ihren Gliedern und ihrem langgestreckten Leib.
Dagon verspürte einen neuerlichen, deutlichen Schauer von Furcht, als er das Wesen betrachtete. Alle, auch die, die ihn als Gott verehrten und ihm Sklavendienste taten, glaubten, daß er, Dagon, ihr Herr war, der Herr der furchtbaren Schatten, die mit der Nacht aus dem Meer kamen und den Tod brachten.
Es war genau umgekehrt. So wie die Sterblichen ihn fürchteten, fürchtete er sie, die gesichtslosen Schrecken des Meeres, von denen die Legenden der Eingeborenen sagten, daß sie Seelen derer waren, die die See verschlungen hatte, und von denen er wußte, daß die Wahrheit tausendmal schlimmer war. Er fürchtete sie, obwohl - oder vielleicht auch gerade weil - sie ihm halfen und sie Diener der THUL SADUUN waren wie er. Vielleicht, weil er sich bis zu diesem Moment nicht darüber klar geworden war, wer die wichtigere Rolle spielte, ob er oder sie entbehrlicher sein würden, wenn sie erwacht waren. Oder vielleicht auch beide.
»Es wird Zeit«, sagte das Hornwesen. Seine Stimme ließ Dagon schaudern, denn er hörte den Befehl, der sich hinter diesen so harmlos klingenden Worten verbarg.
Dagon nickte, drehte sich um und klatschte in die Hände, und in die Gruppe der Betenden, die im Halbkreis um den lodernden Lavasee herum niedergekniet waren, kam Bewegung. Acht der Männer erhoben sich, verließen die Höhle und kehrten wenige Augenblicke später zurück, zwei kleine, bronzebraun gebrannte Gestalten mit Peitschenhieben vor sich hertreibend.
Dagon stutzte. »Nur zwei?« fragte er. »Wo sind die anderen?«
Einer der Männer trat vor und senkte demütig den Blick. Sein Atem ging schnell, aber Dagon war nicht sicher, ob es nur an der erstickenden Wärme lag, die hier unten herrschte und seine Sklaven auszehrte, so daß ihm keiner länger als wenige Wochen zu Diensten war, ehe auch er starb oder geopfert wurde.
»Nun?« fragte er noch einmal und in weitaus schärferem Tonfall.
»Es... sind nicht mehr da, Herr«, antwortete der Mann. Diesmal hörte Dagon die Furcht in seinen Worten überdeutlich.
»Was soll das heißen?« fauchte er. »Es wurden Männer gebracht in den letzten Tagen.«
»Sie sind... nicht mehr da, Herr«, antwortete der Sklave im Flüsterton. »Die Mächtigen sind hungrig, Herr. Und seit dem letzten Morgen kamen keine Männer mehr.«
»Es...« Dagon ballte zornig die Hände zu Fäusten und starrte den Mann einen Herzschlag lang zornig an. Dann fuhr er herum und wandte sich an die schwarz schimmernde Horngestalt.
»Ist das wahr?« fauchte er.
»Es ist wahr«, antwortete das Wesen.
»Und warum erfahre ich das erst jetzt?«
»Es ist deine Aufgabe, dafür zu sorgen, daß genügend Sterbliche da sind«, entgegnete das Wesen kalt, und fast glaubte Dagon, so etwas wie ein hämisches Lachen in dem konturlosen Gesicht zu sehen. »Wir haben getan, was wir mußten. Die Nacht rückt heran.«
Dagon erschauderte. Die Nacht. Mit der Nacht würden die Boote kommen, die Boote, die neue Ssaddit brachten, die Höllenwürmer, die nötig waren, um Ihr Kommen vorzubereiten. Und sie würden hungrig sein.
Mit einem zornigen Ruck wandte er sich um, hob den Arm und deutete auf die beiden kleinwüchsigen Gestalten, die seine Sklaven gebracht hatten. »Ihr!« sagte er fordernd. »Kommt her!«