»Was?« fragte ich.
Shannon lächelte flüchtig. »Ein Kult«, erklärte er. »Und eine Methode, sich seiner Gegner zu entledigen, ohne sie auch nur zu berühren. Es ist sogar ziemlich weit verbreitet, allerdings nicht in diesem Teil der Welt. Ich vermute, Tergard hat ihm diesen kleinen schmutzigen Trick beigebracht. Aber es ist auch unsere einzige Hoffnung.«
»Oh«, sagte ich sarkastisch. »Das beruhigt mich ungemein.«
»Wenn ich recht habe«, murmelte Shannon unbeirrt, »dann bleibt uns noch etwas Zeit. Der Schmerz, den du spürst, ist das, was er der Voodoo-Puppe antut, die er von dir gemacht hat. Aber ein Voodoo-Zauber braucht Zeit, um zu wirken. Wenn wir ihn rechtzeitig genug finden und ihm die Puppe abnehmen, hat er keine Macht mehr über dich.«
»Wenn das so ist, sollten wir uns beeilen«, murmelte ich mit einer Kopfbewegung auf Yo Mai, der schon ein gutes Stück Vorsprung gewonnen hatte. »Ich habe keine besondere Lust, herauszufinden, ob dieser Bubu-Kram wirklich funktioniert.«
»Voodoo«, lächelte Shannon. »Und er funktioniert, mein Wort darauf.«
Wir gingen weiter, dem flammenden See aus Hitze am Grunde des Kraters und dem Eingang der heiligen Majunde-Höhlen entgegen. Die erstarrte Lava unter unseren Füßen wurde so heiß, daß ich es selbst durch die dicken Sohlen meiner Schuhe hindurch unangenehm zu spüren begann. Wie Yo Mai und seine Begleiter - barfüßig - die Hitze ertrugen, war mir ein Rätsel.
Schließlich erreichten wir den Eingang der Höhlen, Nach allem, was ich darüber gehört hatte, war ich beinahe enttäuscht, als ich dicht hinter Shannon geduckt durch den niedrigen Eingang trat. Die Höhle war nicht einmal hoch genug, um aufrecht darin stehen zu können, und von düsterem, flackerndem, rotem Licht erfüllt, und aus einem schmalen, dreieckigen Gang, der tiefer in den Leib des Berges hineinführte, drang ein Schwall erstickend warmer, trockener Luft.
»Er ist hier«, sagte Shannon plötzlich.
Yo Mai und ich sahen ihn gleichzeitig verwirrt an.
»Woher willst du das wissen?« fragte ich.
»Ich spüre es«, murmelte Shannon. Seine Stimme klang gepreßt. Irgend etwas schien ihn zu verunsichern. »Aber da ist noch etwas. Ich...« Er brach ab, schwieg einen Moment und sah Yo Mai an.
»Wohin führt dieser Gang?« fragte er, während er auf den Tunnel am Ende der Höhle deutete.
»Tiefer in den Berg hinein«, sagte Yo Mai. »Zu den eigentlichen Höhlen. Aber es ist Fremden verboten, sie zu betreten. Ihr werdet hier warten. Meine Brüder und ich werden gehen und den Zauberer suchen.«
»Und wir bleiben hier?« Shannon ließ ein leises, häßliches Lachen ertönen. »Du bist verrückt, wenn du das wirklich glaubst, Wilder.«
»Ihr bleibt!« beharrte Yo Mai. Drohend trat er einen Schritt auf Shannon zu und starrte ihn herausfordernd an. Daß der junge Drachenkrieger beinahe zwei Köpfe größer als er und sehr viel kräftiger war, schien ihn nicht im mindesten zu beeindrucken.
»Kein weißer Mann wird jemals die heiligen Höhlen betreten, so spricht das uralte Gesetz des großen Gottes Krakatau«, sagte er.
»Und du willst mich daran hindern?« fragte Shannon spöttisch. Yo Mai nickte ernst. »Du wirst mich töten müssen, wenn du diesen Gang gehen willst«, sagte er. »Und meine Brüder auch.«
Wie um seine Worte zu unterstreichen, traten die drei Majunde-Krieger, die uns begleitet hatten, hinter Yo Mai und legten die Hände auf ihre Waffen. Shannons Lächeln wurde noch eine Spur spöttischer. Ich sah, wie er ganz leicht die Beine spreizte und auf dem rauhen Boden nach festem Stand suchte. »Seid ihr verrückt geworden?« keuchte ich. »Shannon! Yo Mai - was ist in euch gefahren? Wir sind nicht hergekommen, um uns zu streiten!«
Shannon brachte mich mit einer herrischen Geste zum Verstummen. »Halt den Mund, Robert!« fauchte er. »Ich werde das klären, und zwar gleich. Dieser verdammte Magier ist dort drinnen, und ich werde hineingehen und ihn holen. Versuche mich aufzuhalten, wenn du es wagst, Majunde!« Die letzten Worte waren an Yo Mai gerichtet gewesen, der noch immer mit erhobenen Armen vor dem Stollen stand und Shannon den Weg verwehrte. Ich war sehr sicher, daß er nicht weichen würde.
»Shannon!« sagte ich verzweifelt. »Was, in drei Teufels Namen, ist in dich gefahren? Was geschieht mit dir?«
Shannons Antwort ging in einem peitschenden Knall unter, der von der verwirrenden Akustik der Höhle noch verstärkt und tausendfach gebrochen wurde. Yo Mai keuchte, machte einen unsicheren Schritt nach vorne - und brach in die Knie. Aus seiner Schulter ragte der zitternde Schaft eines Pfeiles...
Shannon reagierte, noch ehe ich den Anblick wirklich zur Kenntnis genommen hatte. Mit einem Schrei stieß er mich beiseite, sprang vor und warf sich mit weit ausgebreiteten Armen auf die drei Majunde-Krieger, um sie zu Boden zu reißen. Keine Sekunde zu spät. Ein zweiter Pfeil zischte aus dem Gang und zerbrach am Fels, dort, wo ich gerade noch gestanden hatte. Shannon sprang mit einer unglaublich schnellen Bewegung auf die Füße und rannte los, direkt auf den Stollen zu!
Den dritten Pfeil fing er auf.
Ich weiß, daß es unmöglich ist. Nicht einmal die überzüchteten Reflexe eines Drachenkriegers konnten schnell genug sein, einen aus allernächster Nähe abgeschossenen Pfeil im Fluge zu fangen, aber er tat es, zerbrach das Geschoß mit einem wütenden Schrei und rannte weiter, um in die Schwärze jenseits des Höhleneinganges einzutauchen. Sekunden später erscholl ein dumpfer Laut, und dann war Stille. Vorsichtig stemmte ich mich in die Höhe, näherte mich dem Stollen und versuchte, irgend etwas zu erkennen. Er war nicht sehr lang, und die Höhle, in der er endete, war von düsterem rotem Licht erfüllt. Shannon stand wenige Schritte jenseits des Gangendes, breitbeinig und leicht über eine reglose Gestalt gebeugt, die vor seinen Füßen lag. In den Händen hielt er einen mannsgroßen Majunde-Bogen, den er in zwei Teile zerbrach, als ich hinter ihm aus dem Gang trat.
Verwirrt blickte ich mich um.
Die Höhle war gigantisch, ein Dom aus Lava, in dem ich mir winzig und verloren vorkam, aber schon wenige Schritte vor uns brach der Boden entlang einer messerscharf gezogenen Kante jäh ab. Dahinter, und gut hundert Yards tiefer, loderte die brennende Lava des Krakatau. Eine schmale, geländerlose Steinbrücke führte direkt vor uns über den brennenden Abgrund. Allein der Gedanke, sie betreten zu sollen, ließ mich schaudern. Und plötzlich spürte ich, daß es vielleicht besser gewesen wäre, Yo Mais Warnung ernst zu nehmen. Es war etwas Unheimliches an diesem Ort. Kein Weißer sollte hier sein. Dies war ein Reich von Kräften, mit denen zu messen weder Shannon noch ich stark genug waren.
Aber solcherlei Überlegungen kamen wohl zu spät. Ich hörte Schritte hinter mir und wußte, daß es die drei Majunde waren, und auch ohne mich umzudrehen, wußte ich, daß sie ihre Waffen gehoben und auf Shannon und mich angelegt hatten. Ohne ein weiteres Wort trat ich an Shannon vorbei und beugte mich über den Eingeborenen, den er niedergeschlagen hatte. Ich war nicht überrascht, als ich feststellte, daß er tot war. Nur schockiert.
»Warum hast du ihn umgebracht?« fragte ich leise.
In Shannons Augen blitzte es trotzig auf. »Er wollte uns töten«, antwortete er. Wütend warf er mir den zerbrochenen Bogen vor die Füße. »Damit. Hast du das schon vergessen?«
»Du hättest ihn nicht töten müssen«, sagte ich matt. »Mein Gott, Shannon - was ist los mit dir? Was hat dieser Teufel Necron mit dir gemacht? Du... du bist nicht mehr der Mann, den ich gekannt habe.«
Shannon schürzte abfällig die Lippen. »Vielleicht hast du mich niemals richtig gekannt, kleiner Hexer«, sagte er böse. »Vielleicht wäre es auch besser gewesen, wenn ich nicht gekommen wäre, um dich zu retten.« Er brach ab, blickte einen Moment wortlos auf einen Punkt irgendwo hinter mir und fuhr in veränderter Tonlage fort: »So, wie es aussieht, spielt das keine Rolle mehr. Schau hinter dich.«