Howard antwortete nicht darauf, sondern trat näher an die Scheibe heran und betrachtete ungläubig den gewaltigen Schwärm der Oktopoden, der sich wie eine lebende Klammer um das Schiff zusammenzuziehen begann. Es gab Tiere in allen nur erdenklichen Größen - angefangen von kaum fingergroßen Winzlingen, die wie Staub im Licht der Scheinwerfer glitzerten, bis hin zu gewaltigen Kreaturen, deren Tentakel zehn oder mehr Yards messen mußten.
Und dann sah er etwas, das ihm schier den Atem stocken ließ. Inmitten des gräßlichen Schwarmes befand sich eine menschliche Gestalt!
»Aber das... das ist doch... unmöglich!« stammelte Nemo, als die Gestalt näherkam. Auch Howard verspürte einen neuerlichen, ungläubigen Schrecken, als sich der Schwärm dicht vor dem Rumpf der NAUTILUS teilte und er mehr als einen bloßen Umriß erkennen konnte.
Es war eine Frau.
Wenigstens zum Teil.
Bis zu den Hüften hinab war sie durchaus menschlich, sah man von ihrer tiefblauen, wie geschliffener Diamant schimernden Haut ab. Langes, im Wasser wie eine dunkle Wolke wogendes Haar umgab ein wunderschönes Gesicht, aus dem zwei tiefblaue Augen seinen Blick erwiderten, und ihr Körper war so perfekt geformt, daß sie jeder griechischen Göttin Konkurrenz hätte machen können.
Wie gesagt, bis zu den Hüften. Darunter...
Howards Verstand weigerte sich einfach, das, was er da sah, als Realität anzuerkennen. Es war unmöglich. Un-mög-ich!
Und doch war es da.
»Da fällt mir nix mehr ein«, murmelte Rowlf. »Absolut gar Nixe.«
Howard warf ihm einen bösen Blick zu und konzentrierte sich wieder auf das Bild jenseits der Scheibe. Im Moment war wahrhaftig nicht der richtige Augenblick für Rowlfs dumme Witze.
Langsam schwamm das bizarre Wesen näher an die NAUTILUS heran, näherte sich dem Fenster und hob die Hand, um zu winken. Es dauerte einen Moment, bis Howard begriff, was ihr Gestikulieren bedeutete.
Sie winkte nicht, sondern versuchte, ihn mit Gesten dazu zu bewegen, das Schiff anzuhalten! Immer wieder bewegte sie die gespreizten Finger ihrer Linken nach unten und deutete mit der anderen Hand auf einen Punkt an der Unterseite des Schiffes. »Die... die Luke«, sagte er stockend. »Mein Gott, Nemo - sie meint die Bodenschleuse. Sie will an Bord kommen!«
Nemo gab ein Geräusch von sich, das wie ein krächzender Schrei klang, rührte sich aber nicht. Die Nixe kam näher, begann ungeduldiger zu gestikulieren und schlug schließlich mit der flachen Hand gegen die Scheibe. Ihr Mund bewegte sich, aber das Dröhnen der Maschinen und das Rauschen des rasch vorbeigleitenden Wassers verschluckten ihre Worte.
»Du mußt anhalten«, sagte Howard. »Bitte, Nemo!«
»Den Teufel werde ich tun!« antwortete Nemo gepreßt. Seine Augen waren unnatürlich geweitet. Howard sah die Furcht in seinem Blick. »Glaubst du, ich lasse dieses Monstrum an Bord meines Schiffes? Was, wenn es uns angreift?«
»Angreifen?« Howard schüttelte den Kopf. »Wenn es das wollte, wäre es längst geschehen, Nemo«, sagte er überzeugt. »Sieh dort hinaus.«
Nemos Blick folgte der Richtung, in die Howards ausgestreckter Arm wies - und plötzlich erbleichte der Kapitän der NAUTILUS noch mehr. Hinter dem wirbelnden Schwärm aus Kraken war ein weiteres Tier aufgetaucht. Es näherte sich der NAUTILUS nicht, sondern hielt einen gleichmäßigen Abstand, aber selbst aus der Entfernung von sicher mehr als einer Meile war sein Anblick noch majestätisch genug, auch Howard den Atem stocken zu lassen.
Es war ein Krake, ein Tier, das sich kaum von den Millionen und Abermillionen seiner Rassengenossen unterschied, die der NAUTILUS ein stummes Geleit gaben. Der einzige wirkliche Unterschied war seine Größe. Es war ein Gigant; der größte Oktopus, den Howard und selbst Nemo jemals zu Gesicht bekommen hatten. Jeder einzelne seiner acht riesigen, mit kopfgroßen Saugnäpfen versehenen Fangarme war ein gutes Stück länger als die ganze NAUTILUS.
Zehn, fünfzehn Sekunden lang starrte Nemo diesen Titanen der Meere an, dann wandte er sich - mit einer sonderbar ruckhaften, gezwungenen Bewegung - wieder dem Steuerpult zu und griff zum Sprachrohr.
»Hier Nemo«, sagte er. »Nehmen Sie Fahrt weg. Wir drehen bei.«
Dagon stöhnte leise. Vielleicht war es das erste Mal in seinem nach Millionen zählenden Leben, daß er spürte, was das Wort Furcht in seiner ureigensten Bedeutung besagte; eine Erfahrung, die erzürn ersten Mal gemacht hatte und kein zweites Mal überleben würde.
Das Innere der faustgroßen Kugel, die vor ihm auf der Oberfläche des Altarsteines ruhte, war noch immer von wirbelnden roten Schwaden erfüllt, aber die Schmerzen waren vorbei, der Griff der fremden, unsäglich düsteren Macht war verschwunden. Trotzdem hatte er kaum die Kraft, sich aus der knienden Stellung, in der er die letzte Stunde - die für ihn zu einer Ewigkeit geworden war - verbracht hatte, zu erheben undrückwärts gehend von Altar und Stein zurückzuweichen. Die Stimme - diese gräßliche, furchtbare Stimme inseinem Innern war verstummt, aber er hatte die Wortenicht vergessen, die sie gesprochen hatte, denn siehatten sich wie mit weißglühenden Lettern in seinBewußtsein eingebrannt, zu tief, als daß er sie jemalswieder daraus verdrängen konnte. Er hatte versagt. Erhatte eine zweite Chance bekommen, trotz des Verrates, den er begangen hatte, und er hatte versagt. Um einHaar hätte ein gewöhnlicher, sterblicher Mensch alleszunichte gemacht. Schon jetzt war der Zorn der THULSADUUN gewaltig, denn sie waren keine geduldigenGötter, obgleich sie es gewohnt waren, in Zeiträumen zudenken, die selbst Dagons Vorstellungskraft sprengten. Aber sie hatten zu lange gewartet, und obwohl sie nochein Abgrund von unvorstellbarer Tiefe vom Hier und derIllusion, die die Menschen als Wirklichkeit kannten, trennte, wachten sie mißtrauisch über jede einzelneseiner Handlungen. Sie spürten den grausamen Hungerder Ssaddit, und sie spürten, daß sich die Zeit ihresWartens verlängerte, solange er nicht gestillt war. Dagon taumelte mehr aus der Höhle, als er ging. Siehatten ihn gewarnt, ihm gesagt, daß dies dieunwiderruflich letzte Warnung war, bevor sie ihren Planaufgaben und sich einen anderen Diener suchten, dergeeigneter war. Sie hatten ihm gesagt - und gezeigt! -, was geschehen würde, wenn er auch diese allerletzteChance verspielte.
Und trotzdem vermochte er einen erschrockenen Aufschrei nicht zu unterdrücken, als er für einen Moment innehielt und auf seine Hände hinabblickte...
Das Dorf hatte sich verändert, seit ich das letzte Mal hier gewesen war. Es war keine Veränderung des Sichtbaren - die Handvoll kleiner, ärmlicher Hütten, zwischen denen die vier weißgekalkten Gebäude des »Zentrums« wie groteske Fremdkörper emporragten, die schlammige Straße, die sich irgendwo auf halbem Wege zwischen dem Ortsrand und dem Dschungel in Morast und Unkraut verlor, und der kleine, eigentlich nur aus ein paar in den Uferschlamm getriebenen Pfählen bestehende Hafen waren noch genau so, wie ich sie in Erinnerung hatte.
»Spürst du es auch?« fragte Shannon. Ich nickte ruckhaft. Es war das gleiche wie in der Garnison, weniger präsent und aggressiv zwar, aber doch unverkennbar. Das Böse hatte seine Hand bereits nach dem Ort ausgestreckt.
Mein Blick suchte das Meer. Der Ozean lag still da, eine gewaltige, vielfach gewellte Ebene, die das Licht der Sonne millionenfach reflektierte und scheinbar bar jeden Lebens war. Aber ich wußte, wie sehr dieser Eindruck täuschte. Ich glaubte den namenlosen Schrecken, der tief unter der unbewegten Meeresoberfläche lauerte, regelrecht riechen zu können. »Gehen wir«, sagte ich. Shannon nickte, bog die Zweige des Gebüsches auseinander, hinter dem wir Deckung gesucht hatten, und trat mit einem großen Schritt auf den schlammigen Pfad hinaus, der zur Stadt hinabführte. Ich fühle mich müde. Meine Waden schmerzten, denn wir hatten den Großteil des Weges von der Garnison bis hierher - und das waren immerhin mehr als fünf Meilen - im Laufschritt zurückgelegt; bei Temperaturen noch dazu, die sich irgendwo dicht unterhalb der 40-Grad-Marke bewegen mußten. Im Schatten, versteht sich. Ich merkte erst jetzt, als wir aus dem Dschungel heraus waren, wie sehr uns sein Blätterdach trotz allem vor den sengenden Strahlen der Sonne geschützt hatte.