Einer der beiden reagierte sofort, während der andere wie unter einem Hieb zusammenfuhr und ihn aus vor Angst geweiteten Augen anstarrte. Dagon machte eine ungeduldige Bewegung mit der Hand, und der Ausdruck von Furcht im Blick des Eingeborenen erlosch. Willenlos wie eine Puppe kam der Mann näher und blieb am Rande des Lavasees stehen, so nah, daß der flüssige Stein beinahe seine Füße berührte. Er schien die Hitze nicht einmal zu spüren.
Dagon wandte sich zum See und hob die Arme. Dann schloß er die Augen.
Für endlose Minuten geschah nichts. Dann, ganz sanft zuerst, als zittere der ganze See wie unter einer inneren Spannung, begann die Oberfläche des Flammentümpels zu beben. Kreise wie von ins Wasser geworfenen Steinen bildeten sich und verliefen wieder. Schließlich begann die Lava zu brodeln, als stünde ein Ausbruch bevor.
In der Mitte des Sees erstreckte sich ein langgestreckter, weißglühender Körper, massig wie ein Wal und lang wie der Mast eines Schiffes. Mit einer eleganten, fließenden Bewegung teilte er die tausend Grad heißen Fluten und tauchte wieder unter, eine zitternde, zischende Welle hinter sich herziehend, aus der erstickende Dämpfe und die Hitze der Hölle emporstiegen.
Dagon glaubte die Gier zu spüren, die das Wesen erfüllte, als es das Leben am Ufer des brennenden Sees witterte...
Es mußte Mittag sein, als ich erwachte. Im Inneren der Hütte herrschte noch immer schattiges Halbdunkel, aber die Wärme war durch die dünnen Bretterwände gekrochen und lastete wie ein schmieriger Film auf meiner Haut. Vorsichtig stemmte ich mich hoch. Zu meiner Überraschung ging es erstaunlich gut. Nicht einmal meine geprellten Rippen schmerzten noch.
»Sei vorsichtig«, sagte eine Stimme neben mir. Ich wandte den Blick, erkannte Shannon und sah ihn fragend an.
»Du bist in keinem guten Zustand«, sagte der junge Magier erklärend. »Du darfst nicht zuviel von deinem Körper verlangen. Er könnte sich rächen.«
»Ich fühle mich gut«, widersprach ich, aber Shannon machte nur eine unwillige Handbewegung.
»Ich habe die verborgenen Kräfte deines Körpers aktiviert«, sagte er. »Aber diese Reserven reichen nicht lange. Also schone dich. Du wirst deine Kräfte noch dringend brauchen.«
Ich nickte, setzte mich - weitaus vorsichtiger - ganz auf und ließ die Beine vom Rand der wackeligen Liege baumeln, auf der ich erwacht war. In meinem Kopf war ein dumpfes Rauschen wie eine noch nicht ganz überwundene Benommenheit, und als ich aufstehen wollte, zuckte ein dünner, aber tiefgehender Stich durch meine Brust. Ich zog eine Grimasse und ließ mich wieder zurücksinken. Shannon hatte wohl recht. Es hatte nicht allzuviel Sinn, den Helden zu spielen, nachdem man am Tage zuvor von einem Profi zusammengeschlagen worden war.
Shannon umrundete mein Bett, ließ sich auf einen freien Stuhl sinken und reichte mir einen zerbeulten Blechteller, auf dem eine undefinierbare braune Substanz lag.
»Was ist das?« fragte ich ihn, als er mir eine rostige Gabel mit verbogenen Zinken reichte.
Shannon lächelte flüchtig. »Willst du es erst wissen, oder willst du lieber erst essen?«
Ich starrte ihn an, aber ich war mehr als bloß hungrig, und so zog ich es vor, nicht über den Inhalt meines Tellers nachzudenken, sondern ihn zu verspeisen. Er schmeckte nicht halb so schlimm, wie er aussah.
»Worauf warten wir eigentlich?« fragte ich, nachdem ich fertig war und hastig abgewunken hatte, als Shannon fragend auf meinen Teller deutete.
»Auf die Nacht«, antwortete er. »Es wäre nicht gut, bei hellem Tageslicht von hier fortzugehen. Tergards Leute sind nicht dumm. Sie werden die Augen offenhalten.«
»Was weißt du über Tergard?« fragte ich.
Shannon zuckte mit den Achseln. »Nicht viel mehr, als daß er da ist und mit Dagon zusammenarbeitet.«
»Er ist ein Templer«, sagte ich.
Shannon nickte. Er wirkte nicht besonders überrascht.
»Ein Master des Templerordens«, fuhr ich fort. »Du kennst diese Männer?«
»Nein«, erwiderte Shannon. »Aber kh habe von ihnen gehört. Sie und Necron sind... keine Freunde.« Ich hatte das sichere Gefühl, daß er in Wahrheit etwas ganz anderes hatte sagen wollen, hakte jedoch nicht nach, sondern blickte noch einmal zum Fenster und sah dann wieder zu Shannon auf.
»Wir haben Zeit«, sagte ich. »Warum erzählst du mir nicht alles? Wie kommst du hierher, Shannon? Zwei Jahre in die Vergangenheit?«
»Auf dem gleichen Wege wie du«, antwortete Shannon. »Necron beherrscht die Tore, zumindest zu einem geringen Teil.«
»Das ist keine Antwort«, sagte ich. »Gestern abend hast du gesagt, daß du geflohen bist. Warum ausgerechnet hierher?«
»Weil ich wußte, daß ich dich hier finden würde«, antwortete Shannon.
»Woher?«
»Auf Krakatau befindet sich das zweite SIEGEL«, sagte Shannon, als wäre dies Antwort genug. Mir jedenfalls reichte es nicht. Ich stellte eine entsprechende Frage.
Shannon schwieg ein Weile, aber er schien zu begreifen, daß ich mich diesmal nicht mehr mit Ausflüchten zufriedengeben würde. Schließlich nickte er, griff unter seinen Rock, förderte einen kleinen, in ein braunes Stück Kattun eingeschlagenen Gegenstand zutage und gab ihn mir.
»Das hier habe ich Necron gestohlen, ehe ich geflohen bin«, sagte er. »Ich... kann es dir nicht genau erklären, denn nicht einmal Necron selbst weiß wirklich, auf welche Weise es funktioniert, aber es ist eine Art...« Er zögerte, suchte einen Moment sichtlich nach Worten und fuhr mit einem unsicheren Lächeln fort: »Eine Art Kompaß, wenn du so willst. Ein Kompaß, der nur einem einzigen Zweck dient - die SIEGEL zu finden. Wer ihn besitzt und ein Tor benutzt, wird in die Nähe eines SIEGELS gebracht. Frage mich jetzt nicht, wieso, oder woher Necron ihn hat, ich weiß es nämlich nicht. Ich weiß nur, daß es so ist. Necron gedachte ihn zu benutzen, um die sechs anderen SIEGEL aufzuspüren.«
Verstört blickte ich auf die kaum münzgroße Metallscheibe in meinen Händen. Sie war völlig glatt und fühlte sich kalt wie Eis an. Einen Moment lang wunderte ich mich, keinerlei Anzeigen von Magie zu spüren, denn auch das war etwas, das ich in den letzten Jahren fast gegen meinen Willen gelernt hatte. Erst nach Sekunden kam mir wieder zu Bewußtsein, daß meine magischen Kräfte nach der Begegnung mit Tergard ungefähr so stark entwickelt waren wie die einer Kellerassel. Enttäuscht reichte ich Shannon den Kompaß zurück.
»Das erklärt, warum du hier bist«, sagte ich. »Aber nicht, was mich hierher verschlagen hat.«
Shannon steckte die Metallscheibe weg, nachdem er sie sorgfältig wieder eingewickelt hatte. »Du bist ein Magier wie ich«, sagte er schließlich. »Möglicherweise ist deine angeborene Begabung sogar stärker. Vielleicht stärker als die Necrons.«
»Unsinn«, widersprach ich, aber Shannon beharrte auf seiner Meinung.
»Necron hat Angst vor dir, Robert«, sagte er plötzlich. »Ist dir das klar?«
»Angst? Vor mir?« Ich versuchte zu lachen, aber es gelang nicht ganz. »Du machst Witze.«
»Keineswegs«, sagte Shannon ernst. »Er haßt dich, weil er dich fürchtet, Robert. Er hat Angst vor dir, weil er ahnt, daß du ihn vernichten könntest, irgendwann einmal. Es ist der gleiche Grund, aus dem er mich getötet hätte, wäre ich nicht geflohen. Der Grund, aus dem er das Mädchen gefangenhält.«
Ich fuhr auf, wie von einem Schlag getroffen.
»Das Mädchen?!« Ich schrie fast. »Welches Mädchen, Shannon?«
Shannon antwortete nicht, sondern blickte mich nur mit einer Mischung aus Schrecken und allmählich aufkeimendem Mitleid an, und ich begriff, daß er etwas gesagt hatte, was er ganz und gar nicht hatte sagen wollen.
Das Mädchen...
»Priscylla«, murmelte ich. »Dann... dann lebt sie? Sie... sie ist... ist am Leben, Shannon? Sie lebt noch?« Plötzlich begann meine Stimme zu zittern, und in meiner Brust erwachte ein neuer, grausamer Schmerz, der nichts mit meinen Verletzungen zu tun hatte und den keine Magie der Welt zu lindern imstande war. Ich hatte gehofft, ihn durch Vergessen abtöten zu können, aber Shannons Worte hatten mir bewiesen, daß auch das nicht ging. Er war noch da, grausam und quälend wie am ersten Tag.