Natürlich erhielt er keine Antwort, aber die Männer, die nunmehr alle herangekommen waren und einen dicht geschlossenen Halbkreis um Shannon und seinen Gefangenen bildeten, rückten drohend näher.
Shannon lächelte kalt. »Noch einen Schritt«, sagte er ruhig, »und ich breche ihm das Rückgrat.« Gleichzeitig verstärkte er den Druck seines Knies auf den Rücken des Matrosen. Der Mann ächzte gequält, war jedoch klug genug, keinen Versuch der Gegenwehr zu machen.
Shannons Worte ließen irgend etwas in mir erstarren, denn ich spürte, daß er sie ganz genau so meinte, wie er es sagte. Es war keine leere Drohung, mit der er die Männer einschüchtern wollte! Betroffen - aber auch stärker verunsichert, als ich es in diesem Moment mir selbst gegenüber einzugestehen bereit war - trat ich einen halben Schritt zurück und nahm die Degenspitze vom Hals des Kreolen.
Der Bursche keuchte, hob die Finger an die Kehle und starrte erschrocken auf das Blut, das aus einem winzigen Schnitt in seiner Haut quoll. Sofort hob ich den Degen wieder, berührte ihn aber nicht noch einmal, sondern beschränkte mich darauf, einen Moment lang mit der Klinge vor seinem Gesicht herumzufuchteln und dabei die finsterste Miene aufzusetzen, zu der ich fähig war.
»Vielleicht haben Sie die Worte meines Freundes nicht richtig verstanden«, sagte ich drohend. »Ich kann gerne nachhelfen.«
Der Kreole erbleichte unter seiner Sonnenbräune. Aber dann flammte Trotz in seinem Blick auf, Und ein Zorn, den ich mir absolut nicht zu erklären vermochte. »Was wollt ihr von uns?« schnappte er. »Habt ihr nicht schon genug angerichtet? Verschwindet endlich.«
»Was soll das heißen?« fauchte ich. »Was sollen wir angerichtet haben?«
Der Kreole starrte mich an - und spie mir direkt vor die Füße; angesichts der Degenklinge, die ich noch immer auf sein Gesicht richtete, eine Geste erstaunlichen Mutes. »Mörder!« sagte er angewidert. »Ihr verdammtes Mörderpack. Haut endlich ab. Hier kriegt ihr kein Boot, und wenn ihr uns alle umbringt!«
Ich verstand nun rein gar nichts mehr, aber die Entschlossenheit, die in den Worten des Kreolen mitgeschwungen hatte, überzeugte mich davon, daß wir vielleicht wirklich gut daran taten, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Ich hatte keine Ahnung, welchen Verbrechens er uns bezichtigte, aber er schien mit seiner Meinung nicht allein dazustehen. Und gegen eine ganze Stadt voller aufgebrachter Männer würden uns auch Shannons Kampfkünste nicht mehr weiterhelfen...
Shannon schien zu einer ähnlichen Überlegung gekommen zu sein, denn noch bevor ich etwas sagen konnte, versetzte er seinem Gefangenen einen Stoß, der ihn nach vorn taumeln und auf die Knie fallen ließ, zog seinen Dolch aus dem Gürtel und schnitt einen blitzenden Halbkreis in die Luft. Die Blitzartigkeit der Bewegung ließ die im Ansatz befindliche Bewegung der Männer vor ihm erstarren. Sie waren fast ein Dutzend und hätten ihn wahrscheinlich überwältigen können, aber keiner von ihnen schien große Lust zu haben, als erster mit Shannons Waffe in Bekanntschaft zu treten. Rückwärts gehend und von einer stummen Reihe drohender Gestalten verfolgt, verließen wir die Kaschemme und traten auf die Straße hinaus. Shannon deutete mit einer Kopfbewegung zum Meer.
Ich verstand. Den Ort noch einmal zu durchqueren, erschien mir wenig ratsam, und letztlich waren wir hierhergekommen, um ein Boot zu besorgen - warum also keines stehlen?
Schritt für Schritt entfernten wir uns von der Hafenkneipe und näherten uns dem Meer. Seltsamerweise verzichteten die Männer, die uns gerade noch mit Freuden in Stücke gerissen hätten, darauf, uns zu verfolgen - obgleich sie hier draußen, wo sie sich nicht mehr gegenseitig behindern würden, eine gute Chance gehabt hätten, uns zu überwältigen. Als ich mich herumdrehte, wußte ich auch, warum sie es nicht taten.
Wir waren keine zwanzig Schritte mehr von der Brandungslinie und den rettenden Booten entfernt, die in der Dünung schaukelten. Aber genausogut hätten es auch zwanzig Meilen sein können.
Auf halber Strecke zwischen uns und dem Meer stand ein Mann. Er war sehr groß, hatte ein strenggeschnittenes, kantiges Gesicht und trug das Haar straff zurückgekämmt, was den militärischen Anstrich seiner dunkelblauen Marineuniform noch verstärkte. Und er war nicht allein.
Hinter ihm stand ein halbes Dutzend Soldaten. In ihren Händen lagen Gewehre. Und die Mündungen dieser Gewehre deuteten drohend auf Shannon und mich...
»Lauf los, wenn du soweit bist«, sagte Shannon gepreßt. »Ich zähle bis drei. Eins, zwei...«
»Warum drehen Sie sich nicht erst um, bevor Sie etwas tun, was Ihnen vielleicht leid täte«, sagte der Mann in der Offiziersuniform kalt.
Shannon erstarrte für eine halbe Sekunde, fuhr mit einem Schrei herum und hob instinktiv den Dolch; eine Geste, die angesichts der sechs Automatikgewehre, die auf uns gerichtet waren, allerdings äußerst lächerlich wirkte.
Der Marineoffizier schüttelte mißbilligend den Kopf. »Das würde ich nicht tun«, sagte er. »Aber bitte - es ist Ihre Entscheidung. Wir können Sie auch gleich hier erschießen.«
»Was soll das heißen?« schnappte Shannon. »Was bedeutet dieser Zirkus? Wer sind Sie?«
»Mein Name ist Harmfeld«, sagte der Offizier. »Leutnant Harmfeld, um genau zu sein. Sie sind Mister Craven?«
Die Frage galt mir. Ich nickte, und Harmfeld fuhr, mit einer knappen Geste auf Shannon, fort:
»Ihren Freund kenne ich nicht, Mister Craven, aber das ändert nichts. Ich erkläre Sie beide für verhaftet. Bitte leisten Sie keinen Widerstand.«
»Verhaftet?« ächzte Shannon. »Was soll der Schwachsinn, Harmfeld?«
»Leutnant Harmfeld, wenn ich bitten darf«, sagte Harmfeld ruhig. »Und als Schwachsinn würde ich es nicht gerade bezeichnen.« Er lächelte, aber es war das kälteste Lächeln, das ich jemals bei einem Menschen gesehen hatte. Harmfeld hob die Hand und deutete auf einen Punkt hinter uns. Ich mußte mich nicht umdrehen, um zu wissen, daß die Männer aus der Hafenkneipe gekommen waren und uns drohend umstanden.
»Betrachten Sie es als eine Maßnahme, die Ihrem eigenen Schutz dient«, fuhr er fort. »Vorerst jedenfalls.«
»Schutz?« Ich schüttelte verstört den Kopf, bemerkte plötzlich, daß ich den Degen noch immer in der Hand hielt, und steckte ihn so hastig weg, daß ich mir dabei in den Daumen schnitt. »Was soll das heißen, Leutnant?«
Harmfeld zuckte mit den Achseln. »Vielleicht ziehen Sie es vor, hierzubleiben«, sagte er. »Aber ich fürchte, dann bleiben Sie nicht mehr lange am Leben. Jop Eldekerk war hier sehr beliebt, wissen Sie?«
»Eldekerk?« Plötzlich fielen mir die Worte des Kreolen wieder ein, und der Haß, den ich in seinen Augen gelesen hatte. Eine furchtbare Ahnung stieg in mir empor. »Wollen Sie damit sagen, daß...«
Harmfeld schnitt mir mit einer ärgerlichen Handbewegung das Wort ab. »Spielen Sie nicht den Narren, Craven«, sagte er.
»Sie wissen genau, daß er tot ist.« Mit einem Male nahm seine Stimme einen kalten, offiziellen Klang an. »Ich verhafte Sie beide unter dem dringenden Verdacht des Mordes an Jop Eldekerk und Leutnant Hendrick Roosfeld. Und wahrscheinlich noch einigen Männern mehr«, fügte er etwas leiser hinzu. Ich starrte ihn an, rang vergeblich nach Worten und brachte nur ein hilfloses Krächzen zustande.
Anders Shannon. Wenn ihn Harmfelds Worte überhaupt überraschten, dann überspielte er es hervorragend. Seine einzige Reaktion bestand aus einem kalten, abfälligen Lächeln, das den schwelenden Zorn in Harmfelds Augen zu neuer Glut entfachte.
»Sie sind ein Idiot, Leutnant Harmfeld«, sagte Shannon betont. »Glauben Sie wirklich, wir wären so dumm, am hellen Tag hierherzukommen, wenn wir mit Eldekerks Tod irgend etwas zu tun hätten?«