»Trinken Sie das«, sagte Nemo. »Es wird Ihnen guttun.« Er lächelte auffordernd, als Jennifer zögerte, nach dem Glas mit Portwein zu greifen, das er ihr hinhielt, und schließlich überwand das Mädchen seine Hemmungen, griff nach dem geschliffenen Kristallglas und nahm einen beachtlichen Zug daraus.
»Danke«, sagte sie. »Sie haben recht. Es tut wirklich gut.« Sie reichte Nemo das Glas zurück, schmiegte sich enger gegen das weiche Leder der Couch, auf der sie Platz genommen hatte, und zog die Beine an den Körper. Die Decke, die Nemo ihr gereicht hatte, verrutschte dabei ein wenig; hastig zog sie sie wieder enger zusammen. Nemo hatte sich angeboten, ihr Hosen und Hemd eines kleinwüchsigen Besatzungsmitgliedes bringen zu lassen, dessen Figur der ihren - wenigstens, was die Größe anging - nahekam, aber sie hatte es abgelehnt. Trotzdem hatte Howard den sicheren Eindruck, daß sie fror, obgleich es in Nemos Kabine eher zu warm als zu kalt war.
»Und nun erzählen Sie, Jennifer«, begann er. »Das war doch Ihr Name?«
Jennifer nickte. »Jennifer Borden, genau gesagt. Aber Jennifer reicht vollkommen.«
»Borden?« Howard runzelte die Stirn und tauschte einen raschen, fragenden Blick mit Rowlf. »War das nicht der Name, den Robert...«
»Er kannte meine Mutter«, unterbrach ihn Jennifer rasch. »Ich bin Several Bordens Tochter.«
»Diese Jennifer?« entfuhr es Nemo. »Aber natürlich - warum bin ich nicht gleich darauf gekommen, ich Narr? Nach dem, was ich vor einer halben Stunde gesehen habe, können Sie niemand anderes sein. Robert hat von Ihnen erzählt.«
»Aber er hat nicht gesagt, wozu Sie fähig sind«, fügte Howard hinzu. »Ich muß sagen, ich bin nicht leicht zu beeindrucken, aber Sie haben es geschafft.«
»Ich wußte es selbst nicht«, gestand Jennifer. »Dagon hat... irgend etwas mit mir getan. Es... begann nach unserer Rückkehr von der Dagon.«
»Der was!« Nemo fuhr wie von der Tarantel gestochen auf.
»Sie wollen sagen, daß Sie dieses Schiff gesehen haben? Es existiert also wirklich?«
»Nicht mehr«, antwortete Jennifer. Aus einem Grund, den sich Howard nicht erklären konnte, klang ihre Stimme bei diesen Worten sehr traurig. »Sie wurde zerstört, kurz nachdem wir von Bord gegangen sind.« Sie schwieg einen Moment, und ihr Blick verschleierte sich, als brächten die Worte Erinnerungen mit sich, die ihr Pein bereiteten. Dann sah sie auf, blickte Howard für einen endlosen Augenblick durchdringend und mit undeutbarem Ausdruck an und begann zu erzählen. Es war eine sehr lange Geschichte. Sie begann mit dem Abend, an dem sie von McGillycaddy und ihrem eigenen Vater auf Loch Firth ausgesetzt und Dagons Bekanntschaft gemacht hatte, berichtete von ihrem Zusammentreffen mit Robert und dem Exodus der Einwohner des kleinen Küstendorfes. Sie erzählte von der Irrfahrt der Dagon und dem verzweifelten Kampf gegen die Drachenkrieger, die so plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht waren. Als sie vom Tod ihrer Mutter berichtete, lief eine einzelne, glitzernde Träne über ihre Wange, aber sie sprach tapfer weiter und fing sich bereits nach wenigen Augenblicken wieder.
»Die... die Veränderung begann, als wir zurück waren«, schloß sie. »Ich weiß nicht, was es ist, Mister Lovecraft. Ich weiß nicht einmal, ob Dagon es so gewollt hat oder was aus mir werden wird. Aber seither bin ich fähig, unter Wasser zu atmen und schneller zu schwimmen als ein Fisch. Ich... ich fühle mich unwohl, wenn ich an Land bin. Vielleicht kann ich eines Tages überhaupt nur noch im Wasser leben.«
Für eine lange, endlose Minute herrschte völliges Schweigen in der kleinen Kabine. Schließlich räusperte sich Howard hörbar. »Das... ist eine sehr beeindruckende Geschichte«, begann er.
»Aber Sie glauben sie nicht«, sagte Jennifer.
Howard lächelte nervös. »Es fällt mir schwer«, gestand er.
»Auch verstehe ich nicht, warum Robert mit Dagon gegangen ist.«
»Sie... wissen es wirklich nicht?« fragte Jennifer. »Sie wissen nicht, womit Dagon Robert gezwungen hat, ihn an Bord seines Schiffes zu begleiten?«
Howard schüttelte stumm den Kopf.
»Sie«, sagte Jennifer. »Ihr Leben, Mister Lovecraft. Ihres und das Ihrer Freunde auf diesem Schiff hier. Das war der Preis dafür, daß Robert mit Dagon ging. Ich war dabei, als er diesen Handel schloß.«
Howard starrte sie an. Er fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Jennifer wandte sich an Nemo. »Glauben Sie wirklich, Sie hätten den Shoggoten besiegt, den Dagon gegen die NAUTILUS eingesetzt hatte?« fragte sie. »Es war Dagon, der ihn zurückrief. Sie haben ihn verletzt, aber er hätte Sie und Ihr Schiff trotzdem noch vernichten können, wenn er gewollt hätte.«
»Was soll das?« fragte Howard scharf. »Sind Sie nur gekommen, um uns zu erzählen, was für ein herzensguter Mensch Dagon in Wahrheit ist?«
Jennifer lächelte sehr traurig, schüttelte den Kopf und wischte sich eine Strähne ihres pechschwarzen Haares aus der Stirn. »Nein«, antwortete sie. »Das ist er sicher nicht. Wahrscheinlich ist er nicht einmal ein Mensch. - Aber ich bin nicht gekommen, um mit Ihnen über Dagon zu sprechen, Kapitän. Jedenfalls nicht nur.«
»Was dann?« fragte Nemo.
Diesmal zögerte Jennifer sichtlich, ehe sie antwortete, und als sie es tat, sah sie Howard dabei an, nicht Nemo. »Ich will zu Dagon«, sagte sie. »Und Sie können mich hinbringen. Nur Sie.«
Howard ächzte. »Sie... Sie wollen, daß wir...«
»Ich sagte bereits«, unterbrach ihn Jennifer, »daß es auch um Robert geht. Sie wollen ihn wiederfinden, nicht? Aber Sie wissen nicht, wo er ist. Ich weiß es.«
»Und dafür, daß Sie uns sagen, wo Craven ist, sollen wir Sie zu Dagon bringen?« fragte Nemo spöttisch. »Sie sind verrückt, Kindchen. Was wollen Sie von diesem Monstrum? Reicht Ihnen noch nicht, was er Ihnen und Ihrer Mutter angetan hat?«
»Das ist meine Sache«, antwortete Jennifer heftig. »Sie würden es nicht einmal verstehen, wenn ich es Ihnen erklären würde, Nemo.«
Nemo wollte auffahren, aber Howard beendete den drohenden Streit, ehe er wirklich beginnen konnte, und fragte: »Sie schlagen uns also ein Geschäft vor, wenn ich Sie richtig verstehe? Wir bringen Sie zu Dagon, und Sie sagen uns dafür, wo Robert ist.«
Jennifer nickte. Die Bewegung wirkte irgendwie trotzig. »Wenn Sie es so nennen wollen...«
»Was sollte uns daran hindern, Ihr Angebot abzuschlagen und Robert Craven auf eigene Faust zu suchen?« fragte Nemo.
Jennifers Lächeln verriet Howard, daß sie genau auf diese Frage gewartet hatte. »Ich gebe Ihnen mein Wort, Kapitän Nemo«, sagte sie betont, »daß Sie ihn nicht finden würden. Außerdem bliebe Ihnen nicht mehr genug Zeit, alle Weltmeere nach einem einzelnen Mann abzusuchen.«
Nemo erbleichte, war aber gottlob klug genug, nicht auf die unausgesprochene Herausforderung in Jennifers Worten einzugehen.
»Was meinen Sie damit«, fragte er, »uns bleibt keine Zeit?«
»Robert Craven befindet sich nicht in dieser Zeit«, antwortete Jennifer. »Das magische Tor auf der Dagon hat ihn um etwas mehr als zwei Jahre in die Vergangenheit versetzt, Kapitän Nemo. Genau wie Dagon.«
»In die Vergangenheit?« ächzte Nemo.
»Und wenn ich Ihnen sage, an welchen Ort, werden Sie begreifen, was ich gemeint habe, als ich sagte, es wäre nicht mehr sehr viel Zeit. Ich meine es ernst.« Sie brach ab, legte eine ganz genau bemessene Pause ein und wandte sich an Howard. »Nun?«
»Ich... kann das nicht entscheiden«, antwortete Howard ausweichend. »Die NAUTILUS ist nicht mein Schiff.« Jennifer antwortete nicht darauf, und plötzlich begriff Howard, wie sehr er dieses Mädchen unterschätzt hatte. Ihre zarte Gestalt und das beinahe noch kindliche Gesicht hatten ihn getäuscht, aber hinter dem sanften Blick ihrer meerblauen Augen verbargen sich ein eiserner Wille und ein Verstand, der ganz genau wußte, was er wollte. »In Ordnung«, sagte er schließlich. »Sagen Sie uns, wo wir hinfahren müssen.«