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»Auf die andere Seite der Erde«, antwortete Jennifer. »Wie lange braucht Ihr Schiff, um siebzehntausend Meilen zurückzulegen, Kapitän Nemo?«

»Siebzehntausend Meilen?« Nemo schrie fast. »Sie sind verrückt, Miß Borden! Dieses Schiff wird keine siebzehnhundert Meilen mehr fahren, geschweige denn siebzehntausend! Die Hälfte unserer Maschinen ist schrottreif, und der Rest wird nur durch die Gebete unserer Mechaniker zusammengehalten. Die NAUTILUS muß für mindestens zwei Wochen ins Dock.«

»Dann«, sagte Jennifer ruhig, »wird Robert Craven sterben, Nemo. Und sehr viele andere Menschen mit ihm.«

Howards Geduld war nun endgültig erschöpft. Wütend trat er auf Jennifer zu und streckte den Arm aus, um sie bei den Schultern zu packen und wie ein störrisches Kind zu schütteln, tat es aber dann schließlich doch nicht, sondern beschränkte sich darauf, sie anzufahren: »Zum Teufel, Jennifer, was soll das? Wir sind hier nicht im Kindergarten und spielen Ratespielchen. Wo ist Robert?«

»In der Vergangenheit«, sagte Jennifer noch einmal. »Etwas mehr als zwei Jahre. Auf einer Insel namens Krakatau.« Das Lächeln in ihren Augen wurde beinahe bösartig, als sie sich an Nemo wandte. »Sagt Ihnen dieser Name etwas, Kapitän?«

Nemo antwortete nicht.

Aber Howard konnte sehen, wie er erbleichte.

Weniger als eine halbe Stunde später nahm die NAUTILUS zum zweiten Mal Fahrt auf und lief mit voller Kraft in die offene See hinaus.

Etwas an der Nacht war falsch.

Ich konnte das Gefühl nicht in Worte fassen, aber es war da, überdeutlich und so quälend wie ein Schmerz, der dicht unter der Grenze des Fühlbaren bohrt. Es schien, als wäre mit der Dunkelheit noch etwas aus dem Meer heraufgekrochen, etwas Körperloses und Finsteres und Böses, das sich stets in den Schatten hielt; ein Gefühl, als wären wir von einer Armee unsichtbarer, lauernder Dinge umgeben, die stets verschwanden, kurz bevor man sie sehen konnte.

Ich versuchte den Gedanken zu verscheuchen und machte es damit eher noch schlimmer, und als ich zu Shannon aufsah, dessen Gesicht in der Nacht neben mir zu einer weißen Fläche geworden war, spürte ich auch seine Nervosität. Aber er sagte kein Wort.

So, fügte ich in Gedanken hinzu, wie er seit meinem Erwachen am späten Nachmittag kaum ein Wort mit mir gesprochen hatte. Shannon hatte mich erst geweckt, als die Sonne bereits den Horizont berührt und der Dschungel sich in einen Dom aus blasser werdenden Farben und langen, greifenden Schatten verwandelt hatte.

Wir hatten das Boot aus seinem Versteck geholt und über einen Strand, der von der einsetzenden Ebbe auf das Fünffache seiner vorherigen Breite verlängert worden war, ins Meer hinausgeschoben. Dann waren wir hierhergerudert, um die halbe Breite der Insel herum, und die letzten anderthalb Meilen so dicht an der Küste, daß es mir noch jetzt wie ein Wunder vorkam, daß wir nicht an einem der zahllosen Riffe oder der Steilküste selbst zerschmettert worden waren. Jetzt lag die kleine Pinasse hinter einer der beiden Felsnasen, die den Strand vor uns wie natürlich gewachsene Wehrmauern nach beiden Seiten abschirmten, sorgsam vertäut und unter einigen hastig ausgerissenen Büschen und Palmblättern verborgen, die sie zumindest während der dunklen Stunden vor einer Entdeckung vom Meer aus schützen mochten.

Und vor uns lag die Höhle. Shannon hatte mir davon erzählt. Schon einmal war er auf diesem Wege in Dagons unterirdisches Reich eingedrungen, und genau das gleiche hatten wir wieder vor, sobald die Mitternacht vorüber und Dagons unheimliche Besucher wieder im Meer verschwunden waren. Wie von selbst glitt mein Blick auf das Meer hinaus und suchte die winzigen irrlichternden Leuchtpunkte, die weit vor der Küste aus der Nacht aufgetaucht waren. Shannon hatte mir davon erzählt, so detailliert, daß ich sie mir gut hatte vorstellen können. Und trotzdem erschreckte mich der Anblick bis ins Mark. Es waren nicht nur das Licht und die Schatten und die sonderbaren, an- und abschwellenden Laute, die ihr Auftauchen begleiteten und die an Lautstärke gewannen, je mehr sich die Lichter und die bizarren Schattengebilde der Küste näherten. Es war ein Schrecken in ihnen, der irgend etwas tief am Grunde meiner Seele anrührte.

Wir warteten. Die Zeit schien träge wie Sirup zu fließen, und mein Herz begann vor Erregung schneller zu hämmern, je näher die unheimliche Flotte kam. Bald erkannte ich, daß es sich um ein gutes Dutzend absurder Gebilde handelte - Dinge, die wie eine reichlich mißlungene Kreuzung zwischen skelettierten Riesentieren und irgend etwas Pflanzlichem aussahen und die von grotesken, knöchernen Wesen mit langen Stangen durch das seichte Wasser gestakt wurden. Zwischen ihnen tanzte scheinbar schwerelos eine große Anzahl kopfgroßer, in allen Farben des Regenbogens schillernder Kugeln auf dem Meer, und auch in den Booten selbst gewahrte ich große Mengen davon. Der Anblick erinnerte mich an etwas, und es war eine Erinnerung, die deutlich mit dem Empfinden von Gefahr gepaart war. Aber ich vermochte sie nicht zu fassen. Shannon berührte mich am Arm und deutete nach rechts zum Eingang der Höhle, der wie ein aufgerissenes steinernes Maul in der Felswand klaffte. Vor Augenblicken war er noch leer gewesen, aber jetzt stand eine dunkle, nur als schwarzer Schatten gegen einen lavaglühenden Hintergrund zu erkennende Gestalt dort.

»Dagon«, flüsterte Shannon, so leise, daß ich das Wort kaum verstand.

Ich strengte nach Kräften meine Augen an, um die Gestalt vor dem Höhleneingang deutlicher erkennen zu können, sah aber weiterhin nichts als einen Schatten. Aber etwas an diesem Schatten war... sonderbar. Ich kannte Dagon zu gut, um seine hünenhafte, breitschultrige Gestalt zu verwechseln, nicht einmal bei einer so schlechten Sicht wie jetzt. Und der Schatten dort drüben war ganz entschieden nicht der des Fischgottes. Sicher, auch er war ein Gigant; ein Riese, selbst noch größer als Shannon. Aber er wirkte irgendwie... deformiert. Zusammengestaucht und auf furchtbare, nicht zu beschreibende Weise verdreht und verzerrt, als hätte jemand einen Klumpen Lehm genommen und versucht, eine menschliche Gestalt daraus zu formen, ohne auch nur die mindeste Ahnung von menschlichen Proportionen zu haben. Der Anblick ließ mich schaudern.

»Bist du sicher?« flüsterte ich.

Shannon antwortete nicht, sondern machte eine unwillige Geste mit der Hand, die mir gebot, zu schweigen. Gebannt blickten wir auf die See hinaus.

Das Licht und der düstere Gesang waren stärker geworden, und die bizarren Schiffe kamen näher. Obwohl wir kaum einen Steinwurf entfernt waren, konnte ich nicht genau erkennen, was geschah. Schatten wogten hin und her, Dinge bewegten sich auf dem Strand, und ein Chor düsterer, auf bedrückende Weise angstmachender Stimmen mischte sich in das dumpfe Hämmern meines Herzens.

Es mußte eine halbe Stunde dauern, vielleicht länger, bis sich die knöcherne Armee wieder in die See zurückgezogen hatte.

Aber es war noch nicht zu Ende.

Ich wollte mich erheben, als das letzte Schiff in Nebel und Nacht verschwunden war, aber Shannon berührte mich rasch an der Hand und schüttelte den Kopf. Dann deutete er, ohne ein Wort zu sagen, zum Höhleneingang hinüber. Die Gestalt war verschwunden, nachdem sich die Schiffe wieder entfernt hatten, aber das steinerne Maul der Höhle war nicht leer. Zwei kleinere, schmächtige Schatten waren vor dem roten Licht der brennenden Lava erschienen, die ich nach Sekunden als die Männer identifizierte, die ich bei meinem ersten unfreiwilligen Besuch in Dagons unterirdischem Reich getroffen hatte. Sie taten nichts, sondern standen einfach nur da, die Köpfe gehoben und die Blicke auf das Meer gerichtet. Es sah aus, als warteten sie auf irgend etwas. Oder jemanden.