Shannon zerbiß einen Fluch auf den Lippen. »Verdammt noch mal, worauf warten die?« murmelte er. »Das war noch nie da.«
Ich schwieg. Der Gedanke, abermals in Dagons unterirdisches, feuriges Reich eindringen zu sollen, lastete wie ein dumpfer, lähmender Druck auf meiner Seele. Schon einmal war ich dem chthonischen Labyrinth und seinen mörderischen Beherrschern nur mit äußerster Mühe und - wie könnte es anders sein? - nur durch Shannons Eingreifen entkommen. Gut; diesmal mochten die Karten etwas besser verteilt sein: Wir hatten den Vorteil der Überraschung auf unserer Seite, und ich war fast wieder im Vollbesitz meiner magischen Kräfte. Aber - um bei dem einmal gewählten Vergleich zu bleiben - wir hatten allerhöchstem ein paar Siebener gegen Dagons Royal Flush.
Plötzlich berührte mich Shannon abermals an der Schulter und deutete hinaus auf die See.
Die bizarre Flotte der Knochenmänner war verschwunden, aber das Meer war keineswegs leer. Ich spürte einfach, daß sich unter der trügerisch glatten Oberfläche der See etwas Finsteres, ungemein Böses zusammenbraute. Es war wie der Pestgestank schwarzer Magie, der den Geruch der Normalität vergiftete.
Plötzlich begann sich das schwarzglänzende Wasser unweit der Küste zu kräuseln. Der Mond war wieder hinter schwarzen, schweren Wolkenfäusten verschwunden, so daß ich nicht genau auszumachen vermochte, was es war, das da aus dem Wasser kam und sich schnell dem weißen Sand des Strandes näherte, aber ich sah immerhin, daß es groß war, groß und dunkel und ungeheuer schwerfällig. Wie ein Wal näherte es sich der Küste, begann mit einem schauerlichen Schleifen und Scharren den Sand hinaufzukriechen und verharrte schließlich auf halber Strecke zwischen uns und dem Höhleneingang.
Dann begann es sich zu verändern.
Obwohl das Licht immer schwächer wurde und ich ihn jetzt weniger denn je erkennen konnte, sah ich zumindest, wie der kolossale buckelige Umriß in sich zusammenzusacken begann wie ein Ballon, aus dem die Luft entweicht. Ein grausiger, keuchender Laut erklang, und eine halbe Sekunde später schlug eine Woge gräßlichen Gestankes über Shannon und mir zusammen und nahm uns den Atem.
Dann riß die Wolkendecke auf, und das silberne Licht des Mondes offenbarte uns einen Anblick, wie er fürchterlicher kaum sein konnte:
Das Ding, das aus dem Meer hervorgekrochen war, hatte tatsächlich keinen festen Umriß, sondern ähnelte einem riesenhaften, schwarzglänzenden Sack aus feuchtem Leder, doppelt so groß wie ein Blauwal und zuckend und bebend wie ein aus dem Rhythmus gekommenes, hektisch schlagendes Herz. Sein Körper war von einer Unzahl kopfgroßer Auswüchse übersät, die eine ölig glänzende Flüssigkeit absonderten. Und plötzlich begann es sich zu teilen. Ein furchtbarer, reißender Laut erklang, als sich das gigantische Scheusal in zwei Teile spaltete. Gleichzeitig platzten einige der Auswüchse auf und gebaren lange, peitschende Krakenarme. Das ganze gräßliche Geschöpf klaffte wie eine düstere Blüte auseinander. Ein Schwall schwarzer Flüssigkeit sprudelte hervor, und der Gestank wurde so übermächtig, daß ich nur noch mit Mühe einen Brechreiz unterdrücken konnte.
»O mein Gott!« stöhnte Shannon plötzlich. »Schau dir das an!«
Ich hörte seine Worte kaum. Das fürchterliche Geschehen, das sich wenige hundert Yards vor uns auf dem Strand abspielte, lahmte mich vollkommen.
Die zuckenden Tentakel des Monstrums begannen sich wie Beine einer sterbenden Spinne nach innen zu biegen, griffen direkt in seinen Leib hinein und nahmen etwas heraus, etwas, das ich nach wenigen Augenblicken als menschliche Körper identifizierte!
»Sie... sie leben!« entfuhr es Shannon. »Mein Gott, Robert, sie leben nochl«
Vielleicht war das das Schlimmste. Ich hatte es im selben Moment erkannt wie Shannon, aber mein Verstand weigerte sich einfach, es zu glauben. Die Männer und Frauen, die sich im Griff der fürchterlichen Krakenarme wanden, lebten!
Meine Hände begannen zu zittern. Ein leiser, stöhnender Laut kam über meine Lippen, ohne daß ich etwas dagegen tun konnte. Meine Fähigkeit, Schrecken zu ertragen, war erschöpft. Ich spürte, daß ich gleich etwas furchtbar Dummes tun würde, aber ich war hilflos dagegen.
Shannons Hand berührte mich so heftig im Nacken, daß ich vor Schmerz zusammenzuckte. Sein Blick war hart wie Stahl, als er mich ansah.
»Tu jetzt nichts Unüberlegtes, Robert«, sagte er. »Wir können ihnen nicht helfen.«
»Aber sie... sie leben!« keuchte ich. »Wir müssen sie retten, Shannon!«
Er schüttelte den Kopf. »Das geht nicht, Robert«, sagte er, und mit einem Male war ein neuer, warnender Ton in seiner Stimme.
Ich begriff eine Sekunde zu spät, was er tat. Mein Versuch, mein Bewußtsein abzuschotten, kam zu spät.
»Wir sind nicht hier, um diese Menschen zu retten, sondern um Dagon zu vernichten«, sagte er. »Das ist unser Zieclass="underline" Dagon unschädlich zu machen und das SIEGEL in unsere Hände zu bekommen.«
Das leuchtete mir ein. Wie hatte ich nur so dumm sein können, mich von ein paar lächerlichen Gefühlen um ein Haar zu einer Unbedachtsamkeit hinreißen zu lassen? Ich nickte, ließ mich wieder zurücksinken und sah zu, was weiter geschah.
Aus dem Höhleneingang waren Männer gekommen, sehr viele Männer, die die halb betäubten Menschen, die das Ungeheuer am Strand ablud, in die Höhle zu treiben begannen, ungeachtet der Tatsache, daß viele von ihnen verletzt waren und sich kaum auf den Beinen halten konnten. Der Anblick berührte mich nicht mehr. Shannon hatte wohl recht - es ging hier um viel mehr, als daß ich mich um das Schicksal von wenigen Menschen kümmern konnte. Vielleicht stand das Schicksal der ganzen menschlichen Rasse auf dem Spiel.
Das furchtbare Geschehen dauerte fast eine halbe Stunde, dann schloß sich der riesige fette Balg wieder. Die Tentakel krochen in den Leib des Scheusals zurück, und plötzlich begann es sich aufzuplustern wie ein gigantischer lebender Blasebalg. Zuckend, mit spasmischen, nur scheinbar ziellosen Bewegungen, begann es ins Meer zurückzukriechen - nein, zu fließen, wobei es eine breite, glitzernde Spur aus Schleim auf dem Strand zurückließ.
Auch der Zug der Verlorenen vor uns war beinahe beendet. Ich schätzte, daß es an die siebzig Männer und Frauen gewesen sein mußten, die im Leib des Vulkanes verschwunden waren. Jetzt waren es nur mehr wenige: drei, vielleicht vier, die von einer kleinen Gruppe von Dagons Kreaturen auf den Höhleneingang zugetrieben wurden.
Plötzlich strauchelte eine der gebückt gehenden Gestalten, stürzte in den Sand und wälzte sich auf den Rücken. Sein Bewacher stieß ein wütendes Knurren aus und schwang seine Peitsche.
Er kam nicht dazu, zuzuschlagen.
Mit einem Male wirbelte einer der anderen Gefangenen herum, entriß ihm die Peitsche und schlug ihm den hölzernen Stiel ins Gesicht. Der Bursche brüllte, schlug beide Hände vor den Mund und fiel auf den Rücken.
Eine Sekunde später fielen die drei übrigen Wächter gemeinsam über den widerspenstigen Gefangenen her. Der Kampf währte nur Sekunden. Der Bursche wehrte sich tapfer, aber gegen die Wächter hatte er keine Chance. Er stürzte, krümmte sich im Sand und versuchte, das Gesicht mit den Armen zu decken. Füf eine Sekunde geriet sein Gesicht ins helle Mondlicht, und ich erkannte ihn trotz der großen Entfernung.
Es war Yo Mai.
Der Anblick ließ irgend etwas in mir zerbrechen. Es war ein Gefühl, als würde eine Stahlfeder irgendwo in mir bis zum Zerreißen gespannt - und mit einem Ruck losgelassen. Ich keuchte, fiel zur Seite und kämpfte eine Sekunde lang gegen den immer schlimmer werdenden Schwindel, der plötzlich hinter meiner Stirn wühlte. Shannon beugte sich über mich und versuchte mich hochzuheben.
Ich schlug seine Hand beiseite, schwang die Faust und holte aus, schlug aber nicht zu. Aber mein Blick sprühte vor Zorn, »Rühr mich nicht an!« keuchte ich. »Rühr mich nie wieder an, Shannon!«