Er sprach nicht weiter. Seine Augen brachen, und plötzlich erschlaffte sein Griff. Er war tot.
Sekundenlang blieb ich reglos sitzen, dann beugte ich mich vor, schloß behutsam seine Augen und sah zu Shannon auf. »Du weißt, was er gemeint hat«, sagte ich.
Shannon schüttelte den Kopf, aber ich spürte, daß er log. Ich hätte es auch ohne meine magische Fähigkeit, Lüge von Wahrheit zu unterscheiden, gespürt.
»Die Stadt«, sagte ich. »Sie werden die Stadt überfallen.«
Shannon starrte mich an, schwieg einen Moment und sagte: »Das ist nur eine Vermutung.«
»Vermutung?« Ich traute meinen Ohren kaum. »Was soll das, Shannon? Du hast dieses Ungeheuer gesehen! Du hast Tergards Garnison gesehen! Hast du schon vergessen, was dort geschehen ist? Das war dieselbe Bestie! Sie ist an Land gekrochen, um Tergards Männer zu holen, sie ist gekommen, um die Majunde zu überfallen, und sie wird zurückkehren, um die Stadt anzugreifen!«
»Das ist nur eine Vermutung«, widersprach Shannon. »Die Worte eines Sterbenden, der vielleicht nicht mehr klar bei Verstand war, durch nichts bestätigt! Was denkst du, sollen wir jetzt tun?« Zornig deutete er aufs Meer. »Vielleicht dem Vieh nachschwimmen und es ersäufen?«
»Nein«, antwortete ich wütend. »Die Stadt warnen.«
»Warnen?« Shannon ächzte. »Bist du verrückt? Harmfeld wartet doch nur darauf, daß wir uns zeigen. Und wir haben keine Zeit. Dagon wird nicht warten, bis wir wiederkommen. Wenn er das Siegel erbricht und damit die THUL SADUUN in die Gegenwart holt, ist mehr verloren als eine Stadt, Robert!«
Es waren diese Worte, die die Entscheidung brachten. Worte, aus denen die gleiche Kälte und Gefühllosigkeit sprachen, zu der er mich gezwungen hatte.
Ich stand auf.
»Ich gehe zurück«, sagte ich. »Harmfeld und sein Schiff sind mir herzlich egal. Der Irrtum wird sich irgendwie aufklären.«
»Sie werden dich am höchsten Mast der Zuidermaar aufhängen!« ächzte Shannon. »Robert, ich flehe dich an - das hier ist vielleicht unsere letzte Chance, Dagon aufzuhalten! Verspiele sie nicht.«
»Ich gehe«, beharrte ich. »Wenn du glaubst, daß es so schlimm ist, dann geh allein zu Dagon. Wahrscheinlich wäre ich dir sowieso nur eine Last.«
Shannon ballte zornig die Hand zur Faust, aber ich schnitt ihm mit einer entschlossenen Bewegung das Wort ab und sagte noch einmaclass="underline" »Ich gehe, Shannon, ob es dir paßt oder nicht.«
Shannon schürzte wütend die Lippen. »Meinetwegen«, fauchte er. »Aber wenn du denkst, ich würde wieder im letzten Moment auftauchen, um dich herauszupauken, dann täuschst du dich.« Er stand auf, riß mit einer zornigen Bewegung das Schwert hoch und rammte es in die Scheide zurück. Plötzlich verschwand der wütende Ausdruck von seinen Zügen, aber ich spürte, daß selbst das nicht echt, sondern pure Berechnung war, vielleicht wie alles, was ich erlebt hatte, seit wir uns wiederbegegnet waren.
»Wir waren einmal Freunde, Robert«, sagte er sanft. »Ich flehe dich im Namen unserer Freundschaft an, tu es nichtl«
»Freunde?« Ich schüttelte den Kopf. »O nein, Shannon. Dem Mann, dessen Freund ich gerne gewesen wäre, bin ich das letzte Mal auf der Dagon begegnet. Ich weiß nicht, was mit ihm geschehen ist, aber du bist es jedenfalls nicht. Nicht mehr.« Ich deutete mit einer Kopfbewegung zurück in die Richtung, in der die Stadt lag. »Kann ich das Boot nehmen?«
»Meinetwegen«, sagte Shannon zornig. Dann drehte er sich um und verschwand mit schnellen Schritten in der Höhle.
Er wünschte mir nicht einmal Glück.
Wieder herrschte die Nacht vor den großen Fenstern, die wie zwei gläserne runde Augen im Turm der NAUTILUS prangten, aber es war eine Nacht jenseits der Dunkelheit, ein Schwarz tiefer als Schwarz, ein Schweigen jenseits der Stille, eine Einsamkeit weit tiefer als alle Leere, die das gewaltige stählerne Schiff einhüllte. Das Pochen der Maschinen war verstummt, und selbst das Rauschen des am Rumpf des Schiffes vorübergleitenden Wassers war einem anderen, unbeschreiblichen Laut gewichen: ein Gleiten und Fließen, als striche die Ewigkeit selbst mit samtenen Fingern über den blauschwarzen Stahl der NAUTILUS.
»Wie lange noch?«
Nemos Stimme klang fremd; verzerrt und störend und mißtönend nach der schier endlosen Stille, die in der kleinen runden Turmkammer geherrscht hatte. Blauschwarze Schemen aus zusammengeballtem Nichts wogten vor den runden Bullaugen aus zollstarkem Panzerglas. Die NAUTILUS schien sich zu schütteln wie ein verwundetes Tier, obgleich sie sich nicht im mindesten bewegte.
Nemo schauderte. Das Meer, durch das die NAUTILUS seit einer unbestimmten Zeitspanne glitt, gehörte zu einer Welt, in der sie nicht sein sollten. Alles hier machte ihm angst. Er konnte seinen Augen und Ohren nicht mehr trauen. Die Welt war aus den Fugen geraten, seit Howard begonnen hatte...
Ja, was tat er eigentlich?
Nemo war während der ganzen Zeit keine Sekunde von seiner Seite gewichen, aber es war ihm nicht gelungen, auch nur in Ansätzen nachzuempfinden, was der schwarzhaarige Mann mit dem Asketengesicht neben ihm tat. Äußerlich stand er reglos, beinahe wie erstarrt vor einem der Bullaugen, so still, daß man schon mehr als genau hinsehen mußte, um überhaupt zu erkennen, daß er noch atmete. Und trotzdem hatte er damit begonnen, die Wirklichkeit zu verändern.
Dann geschah etwas. Nemo konnte nicht sagen, was, aber das unsichtbare Wogen dort draußen war plötzlich anders, schneller und hektischer und irgendwie gerafft, und mit einem Male waren wirklich Schatten in den wogenden Schemen. Ein spürbarer, knirschender Ruck ging durch das Schiff, und dann waren auch die Geräusche der Wirklichkeit wieder da; das Pochen der Maschinen, das Rauschen und Klatschen des vorüberrasenden Wassers, die leisen, einzeln nicht wahrnehmbaren Laute, die den Atem des Schiffes bildeten, dies alles schlug wie eine Flutwelle über Nemo zusammen; so warnungslos, daß er im ersten Moment erschrocken zusammenfuhr.
Als er aufblickte, sah er gerade noch, wie Howard zusammenbrach.
Mit einem Schrei war er bei ihm, aber Rowlf war schneller. Geschickt fing er Howard auf, ließ ihn behutsam zu Boden gleiten und zog seine Jacke aus, um sie zusammenzuknüllen und wie ein Kissen unter Howards Kopf zu legen.
»Was ist passiert?« fragte Nemo erschrocken.
»Nix«, antwortete Rowlf. »Das wird wieda.«
Nemo blickte verwirrt zwischen den Bullaugen und Howards Gesicht hin und her. Vor den gläsernen Augen der NAUTILUS war wieder das Meer, und in der Ferne zeichnete sich ein verschwommener schwarzer Schatten ab, das einzige Anzeichen des Schwarmes aus Millionen und Abermillionen Kraken und Tintenfischen, die dem Schiff noch immer folgten. Aber aus Howards Gesicht schien alles Leben gewichen zu sein. Er atmete, aber so flach, daß es kaum zu bemerken war, und sein Antlitz war bleich wie Kalk.
»Was ist mit ihm?« fragte Nemo noch einmal. Er glaubte nicht, daß es Zufall war, daß Lovecraft im selben Moment zusammengebrochen war, in dem die NAUTILUS wieder in die Wirklichkeit zurückfiel. »Soll... soll ich Obote holen?« fragte er stockend.
Rowlf blickte kurz auf, schüttelte den Kopf und beugte sich wieder über Howard. »Nee«, sagte er. »Der kannem sowieso nich helfn. 's wird schon wieda.«
Nemo wollte impulsiv widersprechen, aber in diesem Moment öffnete Howard stöhnend die Augen. Sein Blick war verschleiert. Er zitterte vor Kälte und Schwäche, obwohl Schweiß seine Stirn bedeckte.
»Du und deine verdammten Zaubertricks«, murmelte Nemo kopfschüttelnd. Er versuchte zu lächeln und seine Worte scherzhaft klingen zu lassen, um Howard über seine wirklichen Gefühle hinwegzutäuschen. Aber natürlich gelang ihm weder das eine noch das andere.
»Es sind keine Zaubertricks«, murmelte Howard schwach. »Es sind...«