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Nemo machte eine Handbewegung. »Verschone mich mit langen Erklärungen, mein Freund«, sagte er. »Erklär dir lieber selbst, daß auch deiner Leistungsfähigkeit gewisse Grenzen gesetzt sind.«

»Danke, gleichfalls«, sagte Howard. Er versuchte sich aufzurichten, aber seine Kräfte reichten nicht.

Nemos Gesicht verdüsterte sich in übertrieben geschauspielertem Zorn. »Immerhin lasse ich mich nicht mit einem verrückten Haufen übriggebliebener Kreuzritter ein, die mir irgendwelchen Firlefanz beibringen.«

Howard lächelte. »Firlefanz? Nun ja ...«

Es war Nemo klar, daß sein Freund nicht weiter über dieses Thema sprechen wollte. Er wußte, daß Howard mehr gewesen war als ein x-beliebiges Mitglied der Templer; ebenso, wie diese mehr waren als ein Haufen übriggebliebener Kreuzritter. Howard Phillips Lovecraft war einer der legendären Master dieses Ordens gewesen, ein Mann, der über ein Wissen und eine Macht verfügte, die ihn in den Augen der allermeisten anderen Menschen zu einem Magier gemacht hätten. Was er tat, hatte im Grunde nichts mit Magie zu tun - und trotzdem: war es nicht eine Art von Zauberei, ein gewaltiges Schiff wie die NAUTILUS nur durch die pure Kraft seines Willens durch die Zeit zu befördern? Denn das war die besondere Fähigkeit des Time-Masters.

Nemo schauderte innerlich, als er sich vorzustellen versuchte, über welch unvorstellbare Macht ein Mann verfügte, der die Zeit zu manipulieren imstande war. Howard hatte dies wohl auch begriffen, den Orden verlassen und sich geschworen, seine Kräfte nie wieder einzusetzen.

Bis heute.

In diesem Moment drängte sich ein schriller Pfiff in Nemos Gedanken. Verärgert drehte er sich herum, nahm den Hörer der Bordsprechanlage zur Hand und hielt ihn gegen das Ohr. »Ja?« fauchte er.

»Schiff ahoi, mon capitaine«, erscholl die Stimme des wachhabenden Offiziers aus dem Instrument. »Vier Meilen Backbord voraus.«

»Zum Teufel, dann gehen Sie tiefer!« antwortete Nemo verärgert. »Ich habe jetzt keine Zeit.«

Er konnte beinahe hören, wie der Mann am anderen Ende der Leitung nervös zusammenfuhr. »Es... es tut mir leid, mon capitaine«, fuhr der Offizier nach einer kleinen, aber bedeutungsschweren Pause fort. »Aber Sie sollten hier herunterkommen. Da... da ist noch etwas.«

Nemo fragte nicht mehr, sondern hängte das Gerät ein, drehte sich auf dem Absatz um und stürmte hinunter in den Salon der NAUTILUS.

Das Schiff lag wie ein schlafender Wal vor der Küste; selbst aus der Nähe nicht mehr als ein Schatten im Mondlicht, der gigantisch vor mir emporwuchs. Die Laute der Nacht vermischten sich mit dem leisen Klatschen, mit dem die Wellen gegen seinen hölzernen Rumpf brandeten, dem Knarren und Ächzen des riesigen hölzernen Rumpfes und dem Singen des Tauwerks, und wenn ich genau hinhörte, konnte ich sogar die Schritte der Deckswache vernehmen, die ihre monotonen Runden zog.

Ich näherte mich dem Schiff von der Seeseite her. Ich hatte kaum damit gerechnet, wirklich unentdeckt so weit zu kommen, aber das Schicksal schien es ausnahmsweise einmal gut mit mir zu meinen. Die Sicht war so schlecht, daß der Mann auf dem Deck der Zuidermaar die kleine Pinasse höchstwahrscheinlich nicht einmal bemerkt hätte, wenn er nach mir gesucht hatte; und außerdem rechnete auf dem Schiff wohl kaum jemand damit, daß ich freiwillig zurückkäme. Noch dazu aus dem offenen Meer.

Erschöpft ließ ich die Riemen sinken und überließ es der Strömung, mich die letzten hundert Yards auf das Schiff zuzutreiben. Mein Blick glitt über die schwarz daliegende See, wanderte weiter und tastete über die dunkle Küstenlinie Krakataus. Die Stadt lag völlig dunkel da; nicht das mindeste Licht brannte. Einen Moment lang mußte ich mich gegen die bedrückende Vorstellung wehren, zu spät zu kommen und wieder nichts als verlassene Gebäude und die Spuren eines fürchterlichen, ungleichen Kampfes zu sehen...

Ich verjagte die düsteren Bilder, drehte mich herum und blickte wieder auf das Meer hinaus, und zum wiederholten Male spürte ich dieses dumpfe, bedrückende Gefühl, ein Empfinden, als würde ich von unsichtbaren bösen Augen angestarrt und taxiert. Das Meer war glatt und wirkte blind wie ein gewellter, erstarrter Spiegel, der selbst das schwache Licht, das die Wolken durchdrang, noch zum größten Teil absorbierte und dafür etwas Fremdes und namenlos Böses freigab.

Aber war es wirklich nur Einbildung?

Behutsam, vorsichtig wie ein Mann, der die Hand nach einem Eisen ausstreckt und fürchtet, es glühend heiß vorzufinden, öffnete ich mein Bewußtsein und tastete hinaus in die lichtlose Weite des Meeres.

Und spürte...

Gier.

Eine unbeschreibliche, animalische Gier, gepaart mit fleischlichem Hunger.

Und Wut.

Wut auf alles Lebende, auf die Wesen, die ihnen die Welt gestohlen hatten, die von Rechts wegen ihnen gehörte, ein Haß, der irgend etwas in mir berührte und sich wie ein brennender Schmerz in meinen Leib fraß...

Erschrocken zog ich mich zurück, schirmte mein Bewußtsein mit aller Macht gegen die destruktiven Impulse ab und schloß die Augen. Meine Hände zitterten. Der Kontakt hatte kaum eine Sekunde gedauert, aber schon diese kurze Zeitspanne hatte gereicht, mich an den Rand des Wahnsinns zu treiben.

Es dauerte Sekunden, bis ich begriff, was es gewesen war. Was ich gespürt hatte, war nichts anderes als das Bewußtsein des schrecklichen schwarzen Dinges gewesen, das Shannon und ich beobachtet hatten. Es war kein Denken im eigentlichen Sinne des Wortes gewesen, sondern ein Bewußtsein auf einer viel tieferen Stufe selbst noch als der des Tierischen, ein Ding, das nur aus Instinkten und dumpfen Reflexen zu bestehen schien, so düster und fremd, daß ein intensiver Kontakt reichen mußte, mein Bewußtsein zu zerbrechen.

Ein dumpfer Schlag brachte mich in die Wirklichkeit zurück. Ich fuhr auf, griff instinktiv nach meinem Degen und atmete erleichtert auf, als ich sah, daß es nur die Zuidermaar war, gegen die mein Schiffchen gestoßen war, kein schwarzes Scheusal, das plötzlich aus dem Meer auftauchte.

Aber die Bestie war nahe, sehr nahe. Ich konnte sie spüren. Und ich spürte, daß sie näherkam...

Hastig griff ich wieder nach einen Riemen, stakte mich an der Bordwand entlang und starrte nach oben.

Ich mußte nicht lange warten. Der dumpfe Schlag, mit dem die Pinasse gegen den Rumpf des Kriegsschiffes geprallt war, war gehört worden, und schon nach wenigen Augenblicken erschien der Schatten der Bordwache über der Reling. Ich stand auf, ließ den Riemen achtlos ins Wasser klatschen und begann wild mit den Händen zu gestikulieren.

Meine Kenntnisse des Holländischen beschränkten sich auf die beiden Worte Mijnheer und bedank, so daß ich nur hoffen konnte, daß der Mann über mir die Bedeutung meiner Gesten erkannte.

Der Mann rief etwas, das ich nicht verstand, wartete wenige Sekunden und verschwand von der Reling. Ich konnte seine Schritte auf dem Deck des Schiffes poltern hören.

Aber ich hörte auch noch etwas...

In das monotone Klatschen der Wellen hatte sich ein anderes Geräusch gemischt, ein Laut, als glitte tief unter der Wasseroberfläche ein gewaltiger, mißgestalteter Körper heran. Erschrocken fuhr ich herum. Die abrupte Bewegung ließ mein kleines Boot schwanken, so daß ich das Gleichgewicht verlor und mich mit einer Hand am Rumpf der Zuidermaar festhalten mußte, um nicht zu stürzen.

Als ich mich wieder aufrichtete, sah ich die Wellen.

Es war ein bizarrer, fürchterlicher Anblick. Vielleicht eine Viertelmeile jenseits der Zuidermaar begann sich die Wasseroberfläche zu kräuseln, als stiege irgend etwas Gigantisches aus den Tiefen des Meeres empor. Eine pfeilförmige, schäumende Bugwelle erschien auf der See, bewegte sich einen Moment lang scheinbar ziellos nach beiden Seiten - und richtete sich dann mit tödlicher Präzision auf mein kleines Schiff!