Plötzlich waren über mir wieder Stimmen. Ich sah auf, gewahrte gleich ein halbes Dutzend Schatten, die sich über die Reling und zu mir herabbeugten, und hörte ein Gewirr durcheinanderrufender Stimmen.
»Um Gottes willen, beeilt euch!« schrie ich. Ich hatte keine Ahnung, ob meine Worte verstanden worden waren oder ob es Zufall war, aber in der nächsten Sekunde fiel ein Schatten über die Reling, wickelte sich auf und wurde zu einer Strickleiter, die keine zwei Yards vor meinem Boot gegen den Schiffsrumpf prallte.
Ich warf einen hastigen Blick auf die See hinaus. Die schäumende Bugwelle war nähergekommen, und sie hatte noch an Geschwindigkeit gewonnen! Allerhöchstem noch hundert Yards trennten sie vor der Zuidermaar - und mir. Für einen winzigen Moment bildete ich mir ein, einen absurd aufgedunsenen Schatten darunter wahrzunehmen, den Umriß eines gigantischen, verzerrten Balges, der sich pumpend und zitternd auf mich zubewegte, schwarze Tentakelarme wie zuckende Nervenfäden nach mir ausstreckend...
Über mir wurden die Stimmen aufgeregter, als auch die Männer an Deck des Schiffes das gigantische Etwas entdeckten, das wie ein lebender Torpedo auf die Zuidermaar zuschoß, und plötzlich hörte ich ein fürchterliches Rauschen und Klatschen, keine zehn Yards hinter mir!
Mit aller Kraft zog ich mich an der Strickleiter empor. Plötzlich erscholl ein fürchterliches Splittern und Bersten, und eine halbe Sekunde später war das Boot unter meinen Füßen verschwunden und das Meer voller Schaum, Schwärze und zerborstener Trümmer. Ein ungeheurer Schlag ging durch das Schiff. Die Zuidermaar ächzte, legte sich in einer nur scheinbar trägen Bewegung auf die Seite und krängte für einen Moment gefährlich über. Ich schrie auf, klammerte mich mit aller Gewalt an der Strickleiter fest und keuchte vor Anstrengung, als das Schiff in einer umgekehrten Bewegung zur anderen Seite kippte und seine Wand wie eine hölzerne Faust nach mir schlug. Irgendwie gelang es mir, die Strickleiter weiter zu umklammern, und irgendwie brachte ich auch das Kunststück fertig, nicht in die Tiefe geschleudert zu werden, sondern mit zusammengebissenen Zähnen weiterzuklettern.
Verzweifelt blickte ich in die Tiefe. Von meinem Boot war keine Spur mehr zu sehen. Das Meer unter mir war verschwunden, und statt dessen brodelte eine gewaltige, schwarzglänzende Masse dort, ein schreckliches Etwas, aus dem peitschende Krakenarme nach oben griffen und scharrend am Rumpf des Schiffes entlangfuhren.
Dann ertastete einer der Arme die Strickleiter, wickelte sich darum und zog sie mit einem fürchterlichen Ruck bis zur Zerreißprobe straff. Der Ruck schleuderte mich um ein Haar in die Tiefe.
Und dann sah ich, wie ein zweiter, armdicker Tentakel aus der schwarzen Masse herauswuchs und zitternd wie ein blinder Wurm zu mir emporkroch!
Mit verzweifelter Anstrengung kletterte ich weiter. Der Tentakel folgte mir. Seine ungeheure Größe verlieh seinen Bewegungen etwas trügerisch Langsames, aber er kam in Wahrheit rasend schnell näher. Wie von Sinnen kletterte ich weiter, sah eine Hand nach der meinen greifen und klammerte mich blind vor Furcht daran. Eine zweite Hand erschien, dann eine dritte, vierte, und plötzlich wurde ich nach oben und über die Reling des Schiffes gezerrt.
Beinahe jedenfalls.
Mit einem Ruck, der mir schier das Bein aus dem Leib zu reißen schien, wickelte sich der Tentakel um meinen linken Fuß und holte mich zurück. Ich keuchte vor Schrecken und Schmerz, prallte mit dem Kinn gegen die Reling und verlor um ein Haar das Bewußtsein. Mehr Hände griffen nach mir, und plötzlich war ich von Körpern umringt, die sich mit aller Macht gegen den Zug des Schlangenarmes stemmten und mich an Bord des Schiffes zu zerren versuchten. Ich rechnete schon damit, glattweg in zwei Teile gerissen zu werden, da kam endlich einer der Matrosen auf die richtige Idee, zog ein gewaltiges Messer aus dem Gürtel und hackte den Tentakel mit einem einzigen Hieb ab. Die Männer, die die Bewegung ein wenig zu spät registrierten, zerrten weiter an mir - mit dem Ergebnis, daß wir alle gemeinsam auf die Planken stürzten.
Als ich aufsah, hatte sich das Deck rings um mich herum in ein Chaos verwandelt. Ich lag auf dem Boden, so daß mir der Schiffsrumpf den Blick auf das Meer verwehrte und ich nicht sehen konnte, was dort unten geschah, aber aus der Tiefe griffen zahllose schwarze Tentakel nach oben, ein ganzer Wald peitschender, schwarzglitzernder Schlangen, der über der Reling emporwuchs und nach den verschreckten Matrosen griff. Schreie gellten auf, dann peitschte ein Schuß, und plötzlich war einer der Männer verschwunden und hing mit zappelnden Armen und Beinen zwei Yards über der Reling in der Luft, umklammert von einer schwarzen Ranke, die ihn in die Tiefe zerrte.
Ich dachte nicht mehr an die Gefahr, in der ich vor Sekundenbruchteilen noch geschwebt hatte, sondern sprang auf, riß den Stockdegen aus seiner Hülle und trieb den geschliffenen Stahl bis zum Knauf in das schwarze Fleisch.
Das Ergebnis war so dramatisch, wie ich gehofft hatte.
Der Tentakel zuckte, schnellte wie unter einem Krampf herum und schleuderte den Matrosen zurück auf das Deck. Eine faustgroße, graue Wunde entstand da, wo ihn der Stahl meiner Waffe getroffen hatte. Das unheilige Fleisch des Ungeheuers begann zu kochen, zerlief zu einer schwammigen, grauen Masse und löste sich in ätzenden Dampf auf. Und die Vernichtung blieb keineswegs auf einen kleinen Teil des Monstrums beschränkt, sondern lief rasend schnell weiter, erreichte die Spitze des Tentakels und raste gleichzeitig in die Tiefe. Der ganze gewaltige schwarze Strang färbte sich grau und zerlief wie Wachs, das zu lange in der Sonne gelegen hatte.
Ich achtete nicht weiter darauf, sondern fuhr herum, stach meine Klinge in einen zweiten Tentakel und trennte einen dritten mit einem einzigen Hieb ab, gerade als er sich um eine Gestalt wickeln wollte, die gestrauchelt war und nicht zu begreifen schien, in welcher Gefahr sie schwebte.
Ein neuerlicher harter Schlag traf das Schiff und ließ es in seinen Verbänden erbeben, und in das Schäumen und Kochen des Wassers unter uns mischte sich ein Laut, wie ich ihn schrecklicher noch nie zuvor gehört hatte: ein Schrei voller Zorn und unbändiger Wut.
Auch hinter mir gellte ein Schrei auf. Ich fuhr herum, sah eine Bewegung aus den Augenwinkeln und schlug blindlings mit dem Stockdegen zu. Der Tentakel, der nach mir hatte greifen wollen, zerfiel zu grauem Schleim, aber im selben Moment gellte wieder dieser Schrei in meinen Ohren, ich sah ein Gestalt an mir vorübertaumeln, sah sie straucheln und sah den schwarzen Schlangenarm, der sich plötzlich um ihre Beine wickelte und sie auf die Reling zuzuzerren begann.
Mit einem kühnen Sprung war ich zur Stelle, schwang meine Waffe und zertrennte den widerlichen Strang. Grauer Dampf wallte auf, und ein säuerlicher Gestank nahm mir schier den Atem. Ich hustete, stieß das abgetrennte Stück des Tentakels mit dem Fuß von mir und half dem Gestürzten keuchend auf die Beine.
Erst in diesem Moment erkannte ich, wem ich gerade das Leben gerettet hatte.
Leutnant Harmfeld mußte genauso überrascht sein wie ich, denn trotz der prekären Situation, in der wir uns befanden, starrte er mich drei, vier Sekunden lang fassungslos an. »Craven?« keuchte er ungläubig. »Sie?«
Das war eine ziemlich überflüssige Frage, aber mir blieb ohnehin keine Zeit, darauf zu antworten, denn das schwarze Monstrum unter uns gab keineswegs auf. Ich hatte ihm weh getan, aber selbst die Macht meines Stockdegens reichte nicht aus, es zu vernichten. Wahrscheinlich hatte ich es nur wütend gemacht, denn der wirkliche Angriff begann erst.
Durch die Optik des Sehrohres betrachtet, wirkte das Schiff klein, verloren wie ein Spielzeug in der unendlichen Weite der See. Es trieb, die Segel schlaff wie große, naß gewordene Tuchstreifen von den Rahen hängend, mit der Strömung auf die englischen Inseln zu, eingehüllt in eine wogende Nebelbank. Sonderbarerweise war es der einzige Nebel weit und breit; das Periskop war stark genug, das Meer über Meilen und Meilen zu überblicken, aber wohin Nemo auch sah, war die Sicht klar.