Es war nicht vorbei. Im Gegenteil.
Es begann erst.
Es war sehr warm hier unten, tausend Yards unter der Erde und zweimal tausend Yards unter dem flammenspeienden Krater des Krakatau. Und es war eine unangenehme, auf schwer in Worte zu fassende Weise bedrohlich wirkende Wärme, ein erstickender Hauch, der aus den Wänden, der Decke und dem Boden drang, aus den brodelnden Lavaseen emporstieg und mit dem Zischen flammender Feuergeysire die Luft durchwob.
Seit einer Stunde stand Dagon reglos am Ufer des gewaltigen Lavasees und starrte auf das Wogen und Kriechen unter sich hinab. Die Oberfläche des rotglühenden Sees war in beständiger, zuckender Bewegung. Aber es war nicht nur das Brodeln weißglühenden Gesteines, nicht nur der Pulsschlag des Vulkans. Gewaltige, wurmähnliche Dinge bewegten sich unter der hitzeatmenden Oberfläche, stießen manchmal wie im Spiel hindurch und versanken wieder, weißglühende Spritzer geschmolzenen Steines zehn, fünfzehn Yards hoch in die Luft schleudernd. Dann und wann drang ein tiefes, beunruhigendes Grollen an Dagons Ohr, und manchmal reckte sich der augenlose Schädel eines Ssaddit aus dem geschmolzenen Stein wie ein Fisch, der nach Luft schnappt.
Ihre Zahl war wieder gestiegen. Dagons Diener hatten ihm Opfer gebracht, genug, selbst die Gier der THUL SADUUN zu befriedigen. Der Moment, auf den er all die Jahre gewartet hatte, war nicht mehr weit.
Dagon verspürte einen leisen Schauer von Furcht, als er daran dachte, wie viele Leben zerstört worden waren, um diese Armee des Schreckens zu schaffen. Selbst ihm, für den das Leben eines Menschen oder irgendeiner anderen Kreatur weniger galt als der Schmutz unter seinen Füßen, wurde angst, als er daran dachte, welcher Art die Wesen waren, die zu erwecken er hergekommen war.
Aber es war zu spät, um jetzt noch zurück zu können. Er hatte den entscheidenden Schritt noch nicht getan, aber die Tür ins Land der Schrecken war bereits einen Spaltbreit aufgestoßen. Er hatte den eisigen Hauch der Hölle gespürt, und seine Hände, die jetzt sorgsam unter dem lang wallenden Umhang verborgen waren, legten Zeugnis davon ab.
Dagon vertrieb den Gedanken mit einem ärgerlichen Schnauben, erwachte endlich aus seiner Erstarrung und wandte sich mit einem Ruck ab. Als würden die Ssaddit das Gehen ihres Meisters - aber war er das überhaupt? - spüren, begann der See aus geschmolzenem Gestein heftiger zu brodeln und zu zischen. Die Lava spritzte so hoch, daß seine Diener, die sich im Kreis um den gewaltigen flammenden Krater aufgestellt hatten, ein paar Schritte zurückwichen, und die Schatten begannen hektischer hin und her zu huschen.
Einer seiner Diener vertrat ihm den Weg, als Dagon die schmale steinerne Treppe ansteuerte, die hinab in jenen Bereich des Krakatau führte, den zu betreten nur ihm allein gestattet war. Es war ein kleiner hagerer Mann, dessen nackter Oberkörper vor Schweiß glänzte und dessen Gesicht vor Schmutz starrte und gezeichnet war vom Tod; wie die Gesichter aller, die zu lange hier unten nahe dem schlagenden Herzen des Berges waren. Der Krakatau war wie ein feuriger Gott, der kein anderes Leben in seiner Nähe duldete. Er tötete, allein durch seine Nähe.
»Was gibt es?« herrschte Dagon den Mann an.
»Verzeiht, wenn ich Euch störe, Herr«, antwortete der Sklave.
»Aber wir haben einen Eindringling gefaßt.«
»Einen Eindringling?« Dagon zog eine Grimasse. »Dann tötet ihn.«
Er wollte weitergehen, aber wieder hob der Mann schüchtern die Hand, und Dagon blieb abermals stehen. »Was ist noch?« fauchte er ungeduldig.
»Ihr solltet ihn... Euch ansehen, Herr«, antwortete der Sklave kleinlaut. »Er ist... anders als die anderen.«
»Anders?« Dagon runzelte die Stirn. »Was soll das heißen?«
Aber diesmal antwortete der Mann nicht mehr. Sein Blick flackerte vor Angst.
»Gut«, sagte Dagon. »Ich sehe ihn mir an. Führe mich zu ihm.«
Der Sklave nickte heftig, drehte sich herum und ging so schnell voraus, daß Dagon fast Mühe hatte, ihm überhaupt zu folgen. Sie durchquerten die Höhle in entgegengesetzter Richtung und betraten einen niedrigen, von blutigrotem Licht erfüllten Stollen, der tiefer hinein in das steinerne Herz des Berges führte.
Sie erreichten eine hohe, domartig gewölbte Kammer, die als bisher einziger Raum etwas wie eine Möblierung aufwies - in einer Ecke gab es eine niedrige, mit feuchtem Stroh gedeckte Bettstatt, davor einen einzelnen Stuhl.
Auf dem Bett lag ein Mann. Er war an Händen und Füßen gefesselt und so grob hingeworfen worden, daß Dagon sein Gesicht nicht erkennen konnte. Und trotzdem spürte er sofort, warum ihn der Sklave geholt hatte.
Etwas an diesem Mann war sonderbar. Dagon glaubte die Gefahr, die er verströmte, beinahe greifen zu können. Es war bizarr, ja beinahe lächerlich: der schwarzgekleidete Fremde war an Händen und Füßen gebunden - und trotzdem hatte Dagon das Gefühl, einer tödlichen Viper gegenüberzustehen, nicht einem hilflosen Mann...
»Er hat vier von uns getötet, Herr«, sagte der Sklave leise. »Mit bloßen Händen. Wir mußten ihn zu zehnt angreifen, um ihn zu überwältigen.«
Dagon nickte. »Es ist gut«, sagte er. »Du kannst gehen.« Der Sklave entfernte sich schweigend, und Dagon trat vollends an das Bett heran. Der Mann rührte sich nicht, und sein Atem ging langsam und so gleichmäßig wie der eines Schlafenden. Aber davon ließ sich Dagon nicht täuschen. »Wir sind allein«, sagte er. »Sie brauchen sich nicht mehr zu verstellen. Ich weiß, daß Sie wach sind.«
Einen Moment lang schien es, als würde der Gefangene weiter den Schlafenden spielen, und Dagon spürte einen raschen Anflug von Ungeduld, ja, beinahe Zorn. Aber dann hob der Mann den Kopf, drehte sich auf den Rücken und setzte sich auf; mit einer Behendigkeit, als spüre er die stramm angelegten Fesseln gar nicht. Dagon sah, wie er sich spannte, obgleich sein Gesicht völlig ausdruckslos blieb.
»Versuchen Sie es nicht«, sagte Dagon ruhig. »Meine Diener haben mir berichtet, wie gefährlich Sie sind. Aber ich bin viel stärker als ein Mensch.«
Der Fremde sah auf, und während sein Blick über das Gesicht Dagons huschte, nutzte der Fischgott seinerseits die Gelegenheit, seinen Gefangenen eingehender zu betrachten. Der Fremde war überraschend jung; nicht mehr als Zwanzig, allerhöchstens zweiundzwanzig Jahre nach der Zeitrechnung der Menschen, und von schlankem, aber sehr kräftigem Wuchs. Seine Hände waren von jener Sehnigkeit, die große Kraft verriet, und der Blick seiner hellblauen, wasserklaren Augen war wie Stahl. Selbst Dagon begann sich unter diesem Blick unwohl zu fühlen.
»Wer sind Sie?« fragte er.
»Shannon«, sagte der junge Mann. »Mein Name ist Shannon.«
»Shannon...« Dagon wiederholte den Namen ein paarmal, als versuche er, sich an seinen Klang zu gewöhnen. Dann nickte er. »Ich erinnere mich. Du bist der junge Magier, der zusammen mit Robert Craven kam. Was willst du?«
Der Fremde antwortete nicht, sondern starrte ihn nur weiter an. Plötzlich huschte ein sonderbares, schwer zu deutendes Lächeln über sein Gesicht. »Du bist Dagon«, sagte er. Dagon nickte. »Das ist richtig. Du kennst mich?«
»Nicht persönlich«, antwortete der Fremde. »Aber ich habe von dir gehört. Ich bin hier, weil ich dich gesucht habe.«
Dagon lächelte dünn. »Du hast mich gefunden. Aber ich glaube nicht, daß du Grund hast, dich darüber zu freuen. Was willst du?«
»Mit dir reden«, antwortete der Fremde. »Dir einen Vorschlag machen.«
»Einen Vorschlag?« Dagon schüttelte den Kopf. Er war ein wenig enttäuscht. »Was immer es ist, es interessiert mich nicht.«
»Warum hast du mich dann nicht gleich umbringen lassen?« fragte Shannon ruhig.