Und es sah ganz so aus, als hätte er recht.
Ich versuchte in Gedanken, die Zeit abzuschätzen, die noch bis zum Zusammenprall vergehen mußte - eine, allerhöchstens zwei Minuten, dann würde uns dieses Ding vermutlich in den Meeresboden hineinrammen. Ich legte die aneinandergebundenen Hände auf die Reling und spreizte instinktiv die Beine, um mich auf den Anprall vorzubereiten - eine, logisch betrachtet, höchst lächerliche Reaktion in Anbetracht dieses schwimmenden Berges.
Aber dann wurde der Schatten langsamer. Das unheimliche, rotgelbe Licht, das er ausstrahlte, glühte heller auf, tastete wie der Strahl eines Scheinwerfers hierhin und dorthin und glitt, eine Handbreit unter der Wasseroberfläche, über den Rumpf der Zuidermaar. Noch immer war der Riese nur als verschwommener Schatten unter dem Meer zu erkennen, aber ich sah deutlich, wie er langsamer und langsamer wurde und schließlich in einem engen Halbkreis herumschwenkte, bis er sich nahezu parallel zu unserem Schiff bewegte. Die Bugwelle verlief sich allmählich, aber über seinem Rücken begann mit einemmal das Wasser zu brodeln wie bei einem Wal, der Luft abbläst. Der gewaltige Schatten begann zu wachsen, als das Ungetüm der Wasseroberfläche entgegenstrebte. Ich erkannte mehr Einzelheiten: den schlanken, zackenbesetzten Leib, die riesige Heckflosse, unter der das Meer sprudelte, den fürchterlichen Rammsporn an seinem Schädel, die beiden gewaltigen, runden Augen, die grelle Lichtnadeln durch das Meer stießen...
Und plötzlich wußte ich, was wir vor uns hatten!
»Es taucht auf!« sagte Harmfeld. Und dann, etwas lauter: »Kanoniere - Achtung. Feuer frei, sobald es oben ist.« Sekunden vergingen, bis seine Worte in mein Bewußtsein drangen. Dann fuhr ich herum, packte Harmfeld bei den Rockaufschlagen und deutete wild auf das Meer hinaus. »Um Gottes willen, nicht!« keuchte ich. »Das ist kein Ungeheuer, Kapitän! Das ist...«
Harmfeld versetzte mir einen Stoß vor die Brust, der mich zurück und gegen die Reling taumeln ließ. Wütend hob er die Hand, als wolle er mich schlagen. »Sind Sie übergeschnappt, Craven?« schrie er. »Noch ein Wort, und ich lasse Sie in Ketten legen und unter Deck bringen!«
»Aber das ist...«
Harmfeld machte eine blitzschnelle Bewegung mit der Hand, und zwei seiner Marinesoldaten packten mich und zerrten mich grob zurück. Ich wehrte mich verzweifelt, aber mit gefesselten Händen hatte ich keine große Chance gegen die beiden kräftigen Männer. Rasch wurde ich über das Deck und in Richtung des Achterkastells gezerrt.
»Harmfeld!« schrie ich verzweifelt. »Nicht schießenl Das ist kein Ungeheuer! Sie werden...«
Meine Worte gingen in einem ungeheuren Krach unter, als sich die Bordgeschütze der Zuidermaar nahezu gleichzeitig entluden. Zwei-, dreihundert Yards weiter draußen auf dem Meer spritzte das Wasser auf, Schaum und weiße Gischt schossen in die Höhe, und zwischen dem weißen Brodeln stoben Funken in die Luft, als die Kanonenkugeln gegen zolldicken Stahl schlugen. Die beiden Männer, die mich hielten, blieben unwillkürlich stehen, um dem phantastischen Schauspiel zuzusehen. Das Donnern der Geschützsalve war verstummt, aber das Meer kochte weiter und gebar weißen Schaum, als der Gigant weiter auftauchte. Die Zuidermaar begann zu zittern, als gewaltige Wellen das Meer kräuselten und gegen ihre Flanke prallten. Und plötzlich erhob sich vom Deck des Schiffes ein vielstimmiger, gellender Aufschrei, denn inmitten der sprudelnden Gischt erschien ein Alptraumschädel, gewaltig und schwarzgrün schimmernd, von einem Zackenkamm gekrönt und aus zwei riesigen, grell lodernden Augen glotzend.
»Feuer frei!« brüllte Harmfeld. Seine Stimme überschlug sich fast. Ich konnte die Angst darin beinahe greifen. Die Backbordgeschütze der Zuidermaar feuerten eine zweite Salve. Wieder spritzte das Meer auf, und wieder sah ich Funken und Metallsplitter davonfliegen, als die Geschosse gegen den stählernen Schädel des vermeintlichen Ungeheuers prallten und zersplitterten. Dann stach eine orangerote Flamme aus dem brodelnden Gischt, ein helles, boshaftes Sirren erklang - und zwanzig Yards über unseren Köpfen löste sich ein Teil des Mastes in einer feurigen Wolke auf. Brennende Trümmerstücke prasselten auf das Deck, und das gewaltige Kriegsschiff erbebte wie unter einem Hammerschlag.
Die beiden Männer, die mich hielten, waren für einen Moment abgelenkt, und ich nutzte die Chance, die sich mir bot. Blitzschnell riß ich mich los, packte den einen und schleuderte ihn wuchtig gegen seinen Kameraden. Die beiden Matrosen gingen zu Boden. Ich rannte zu Harmfeld zurück, packte ihn an den Schultern und riß ihn herum.
»Hören Sie endlich auf, Sie Idiot!« brüllte ich. »Stellen Sie das Feuer ein, ehe Sie uns alle umbringen!«
Harmfeld keuchte und versuchte, sich aus meinem Griff zu befreien, aber die Wut gab mir zusätzliche Kraft. Ich stieß ihn gegen die Reling, versetzte einem seiner Soldaten, der mich zurückzerren wollte, einen Stoß mit dem Ellbogen, und packte Harmfeld erneut am Kragen.
»Das da draußen sind nicht unsere Feinde!« keuchte ich. »Ihr sogenanntes Seeungeheuer hätte uns mit dem ersten Schuß versenken können, ist Ihnen das klar? Es ist ein Unterseeboot, verdammt!«
Harmfeld wollte antworten, aber in diesem Moment erscholl ein ungeheures Pfeifen und Dröhnen, und eine Sekunde später rollte eine menschliche Stimme über das Meer heran, verzerrt und von einer phantastischen Technik hundertfach verstärkt. Eine Stimme, die ich nur zu gut kannte!
»Achtung, Kapitän der Zuidermaarl Hier spricht Kapitän Nemo von Bord der NAUTILUS. Stellen Sie das Feuer ein!«
Harmfeld erstarrte. Bleich vor Schrecken wandte er sich um, starrte aus hervorquellenden Augen auf den vermeintlichen Monsterschädel - der nichts anderes als der Turm des Unterseebootes war - und versuchte, Worte hervorzubringen. Aber alles, was über seine Lippen kam, war ein unartikuliertes Stöhnen.
»Stellen Sie das Feuer ein und streichen Sie Ihre Eagge!« fuhr die hundertfach verstärkte Baßstimme Nemos fort. »Sie haben genau eine Minute Zeit, sich zu ergeben. Danach versenken wir Sie.«
Harmfeld begann am ganzen Leibe zu zittern. »Die... die NAUTILUS?« wimmerte er. »Das ist... das ist ganz unmöglich. Das ist...«
»Noch fünfundvierzig Sekunden!« schrien die Lautsprecher der NAUTILUS.
»Zum Teufel, Kapitän, antworten Sie!« sagte ich. »Nemo meint es ernst.«
»Aber das ist unmöglich!« keuchte Harmfeld. Seine Stimme klang schrill, fast kreischend. Sein Blick flackerte. »Die NAUTILUS ist eine Legende. Seemannsgarn. Es gibt dieses Schiff nicht!«
»Noch dreißig Sekunden«, sagte Nemo.
»Ihre Legende wird uns bis auf den Mond sprengen, wenn Sie nicht kapitulieren!« sagte ich verzweifelt. »Geben Sie Befehl, die Flagge zu streichen!«
Aber Harmfeld schien meine Worte gar nicht zu hören. Gelähmt vor Schrecken starrte er abwechselnd die NAUTILUS und mich an.
»Ihre Bedenkzeit ist um, mes amis«, sagte Nemo freundlich.
»Ich bedaure es zutiefst, aber Sie zwingen mich, Dinge zu tun, die mir im Grunde meiner Seele widerstreben. Pardonnez-moi.«
Und damit stach eine zweite, feurige Lanze zwischen den Bullaugen der NAUTILUS hervor. Ein ungeheures Krachen erklang, und für einen Moment wurde die Nacht zum Tage, als hoch über unseren Köpfen die niederländische Flagge mitsamt einem Teil des Hauptmastes in Flammen aufging.
Mein Herz schien mit einem schmerzhaften Sprung direkt in meinen Hals hinaufzuhüpfen und dort wie ein toll gewordenes Hammerwerk weiterzuschlagen. Verzweifelt sah ich mich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Für einen Moment war ich nahe daran, schlichtweg über Bord zu springen, um das rettende Ufer schwimmend zu erreichen. Aber ich verwarf den Gedanken, kaum daß er mir gekommen war. Wenn Nemo wirklich einen seiner schrecklichen Torpedos auf die Zuidermaar abschoß, würden von diesem Schiff kaum mehr Trümmerstücke übrigbleiben.