Aber die tödliche, alles auslöschende Explosion, auf die ich wartete, kam nicht. Statt dessen begann plötzlich dicht vor der Reling das Meer zu brodeln, und eine Anzahl gewaltiger, schwarzglänzender Körper durchbrach die Wasseroberfläche. Harmfeld taumelte von der Reling zurück und fuchtelte wild und unkontrolliert mit den Händen umher. An Bord des Schiffes begann eine Panik auszubrechen. Der einzige, der nicht versuchte, eine möglichst große Entfernung zwischen sich und die Reling zu bringen, war ich.
Im Gegenteil. So rasch es mir mit meinen gefesselten Händen möglich war, ergriff ich eine der zusammengerollten Strickleitern, die längs der Reling lagen, warf sie über Bord und sah zu, wie die Riesengestalten hintereinander daran emporzuklettern begannen. Trotz ihres plumpen Äußeren bewegten sie sich äußerst geschickt und schnell. Schon nach wenigen Sekunden stiegen die ersten Männer über die Reling.
Es waren wahrhaftig Giganten. Keiner von ihnen war kleiner als zwei Yards, und ihre Schulterbreite betrug beinahe das Doppelte eines normalen Menschen. Selbst auf mich, der wußte, daß ihr monströses Äußeres nur auf die schweren Tiefseemonturen zurückzuführen war, die sie trugen, wirkte der Anblick fast beängstigend.
Während sich die Männer der NAUTILUS im Halbkreis um die Strickleiter verteilten und warteten, bis auch der letzte an Bord gekommen war, trat ich auf Harmfeld zu. Der Kapitän der Zuidermaar war fast bis zur gegenüberliegenden Reling zurückgewichen und starrte aus hervorquellenden Augen auf die Horrorgestalten. Ein Teil seiner Mannschaft hatte sich um ihn geschart; die meisten bewaffnet, aber ebenso erstarrt vor Schrecken wie ihr Kapitän.
»Geben Sie Ihren Männern Befehl, die Waffen zu senken«, sagte ich hastig. »Ein einziger Schuß löst eine Katastrophe aus!«
Natürlich reagierte Harmfeld auch jetzt nicht auf meine Worte. Aber seine Männer hatten sie verstanden, und der Anblick der finsteren Giganten unterstrich meine Worte und überzeugte sie davon, daß es besser war, auf mich zu hören. Einer nach dem anderen senkten sie ihre Gewehre. Ich atmete innerlich auf.
Mittlerweile war auch der letzte Mann der NAUTILUS an Bord gekommen, und als ich mich umwandte, traten drei der monströsen Gestalten auf Harrnfeld und mich zu. Eine von ihnen überragte selbst die schwarzgekleideten Riesen noch um mehr als Haupteslänge. Ich hätte noch nicht einmal durch die Frontscheibe ihres Helmes blicken müssen, um sie zu erkennen.
»Rowlf!« sagte ich erleichtert. »Ihr hättet wirklich keine Minute später kommen dürfen!«
Howards Leibdiener trat auf mich zu und blickte kopfschüttelnd zu mir herab. »Issoch immer's selbe mit dir«, sagte er.
»Kaum läßt ma dich 'n Moment ausse Augen, bisse wieda inne Klemme.« Er seufzte, nahm umständlich seinen Helm ab und legte ihn vor sich auf das Deck.
»Was... was bedeutet das, Craven?« krächzte Harmfeld. »Sie kennen diese... diese Männer?«
»Das will ich meinen, mon ami«, sagte eine der beiden anderen Gestalten. »Sie sind der Kapitän dieses famosen Schiffes, nehme ich an?«
Harmfeld starrte den Mann im Taucheranzug an und sagte kein Wort. Nach wenigen Sekunden hob der Mann - wie Rowlf zuvor - die Hände an den Kopf, löste seinen Helm und reichte ihn an seinen Begleiter weiter. Das schmale, ausgezehrt wirkende Asketengesicht mit dem weißen Haar, das unter dem Taucherhelm zum Vorschein kam, wirkte über den monströsen Schultern der Tiefseemontur beinahe lächerlich.
»Wenn ich mich vorstellen darf?« fragte er. »Mein Name ist Nemo. Kapitän Nemo. Und Sie sind...«
»Harm... Harmfeld«, stammelte Harmfeld. »Sie... Sie sind Nemo? Der... der Nemo?«
»In der Tat, mein Lieber, der Nemo«, erwiderte Nemo mit einem raschen, flüchtigen Lächeln. Er hob den Arm, deutete mit der Metallklaue seines Anzuges auf seine übrigen Begleiter und schloß auch mich in die Geste ein. »Dies hier sind meine Leute, mon capitain«, sagte er. »Und wie Sie schon ganz richtig vermutet haben, handelt es sich bei Monsieur Craven um einen guten alten Bekannten von mir. Man könnte beinahe sagen, einen Freund.« Er runzelte die Stirn. »Ich sehe, er ist in Ketten?« fragte er. »Was hat er getan?«
Harmfelds Gesicht verlor noch ein wenig mehr an Farbe. »Nichts«, sagte er rasch. »Es handelt sich wohl um... um einen Irrtum.«
Nemo nickte. »Das scheint mir auch so, mon capitain. Es tut mir übrigens ausgesprochen leid, daß ich Ihr prachtvolles Schiff ein wenig beschädigen mußte, aber unsere Zeit ist knapp bemessen, und Ihre Kanonen drohten die NAUTILUS in Mitleidenschaft zu ziehen.«
»Was... was wollen Sie von uns?« stammelte Harmfeld. »Das ist in der Kürze der Zeit und unter den gegebenen Umständen leider nicht so einfach zu erklären«, antwortete Nemo knapp. »Aber ich darf Sie vielleicht bitten, mich an Bord meines Schiffes zu begleiten, mein lieber Freund. Dort werden Sie alles erfahren, was vonnöten ist.«
»Ich... ich bin Ihr Gefangener?« fragte Harmfeld.
Nemo seufzte. »Ich hätte vielleicht ein anderes Wort dafür gefunden«, sagte er. »Aber ja, sicher, man könnte es so nennen. Sagen wir der Einfachheit halber, daß Sie Ihr prachtvolles Schiff vorübergehend als geentert betrachten dürfen.«
»Dann ist es also wahr, was man sich über Sie erzählt!« sagte Harmfeld wütend. Er hatte den ärgsten Schrecken überwunden und fand seine Fassung jetzt wieder. »Sie sind nichts als ein gemeiner Pirat!«
»Aber ich bitte Sie, mon ami!« erwiderte Nemo in leicht beleidigtem Ton. »Nichts liegt mir ferner, als einen Akt der Piraterie zu begehen. Es ist nur so, daß wir aus einem ganz bestimmten Grund hier sind. Sie werden später alles erfahren, aber nehmen Sie jetzt damit vorlieb, daß wir Ihr Schiff brauchen.«
»Und wozu?« fragte Harmfeld.
»Um diese Insel zu evakuieren«, antwortete Nemo.
»Evakuieren?« Harmfeld blinzelte irritiert. »Wie meinen Sie das? Was soll der Unsinn?«
»Ich fürchte, es ist alles andere als Unsinn«, sagte Nemo in eindeutig bedauerndem Ton. »Dies ist die Insel Krakatau, nicht wahr?«
Harmfeld nickte, und Nemo fuhr fort: »Der Vulkan wird ausbrechen, mon capitain. In weniger als zwei Tagen wird fast die gesamte Insel in einer einzigen, gewaltigen Explosion vom Antlitz dieses Planeten getilgt werden.«
Das Wesen fraß sich tiefer und tiefer in die Erde. Längst hatte es den Leib des Berges über sich zurückgelassen, die Insel, ja selbst den jahrmillionenalten Granit des Meeresbodens durchstoßen, aber immer noch fraß es sich weiter. Sein Leib, heiß wie das Herz einer Sonne, hatte eine feurige Wundein die Erde gegraben, einen flammenden Kanal, erfülltmit kochender Lava und Hitze, aber noch hatte es seinZiel nicht erreicht.
Der Ssaddit hielt für einen Moment in seinem gierigen Fressen und Graben inne, um neue Kraft zu schöpfen. Rings um den schrecklichen Lavawurm herum glühte der Fels, und mit dem winzigen, nur von Instinkten beherrschten Etwas, das er anstelle eines Verstandes trug, spürte er die Verlockung des feurigen Erdinneren wie einen düsteren Ruf, der von tief, tief unten erscholl. Dort war sein Ziel. Dort, im kochenden Herz der Erde, in dem die Erinnerung an die Jugend dieses blauen Planeten noch frisch war, würde er seine Erfüllung finden. Selbst er würde sterben, wenn ihn die Umarmung des flammenden Magmas umfing, aber das spielte keine Rolle. Den Weg dorthin zu graben, war der einzige Zweck seines Daseins. Seines und dem seiner zahllosen Artgenossen, die sich jetzt noch tatenlos in den sprudelnden Lavaseen des Krakatau suhlten, abwartend, aber bereit, ihm zu folgen, wenn er den Ort der Bestimmung erreicht hatte.
Die Kerker der THUL SADUUN.