Die NAUTILUS war längsseits gegangen. Das gewaltige Turmluk hatte sich geöffnet, und einer von Nemos Männern hatte eine Laufplanke ausgelegt, so daß wir das Unterseeboot trockenen Fußes erreichen konnten. Harmfeld hatte sich nicht mehr gesträubt, Nemos »Einladung« Folge zu leisten und an Bord der NAUTILUS überzuwechseln - wenn auch höchstwahrscheinlich weniger aus Einsicht als vielmehr, weil er von dem Gehörten und Erlebten viel zu schockiert war, um überhaupt zu so etwas wie Widerspruch fähig zu sein. Ich war ein wenig enttäuscht, Howard nicht im Turm vorzufinden, aber Nemo erklärte mir, daß er im Salon auf mich und den Kapitän der Zuidermaar warten würde, und ich beeilte mich, die gewendelte Eisentreppe hinunter in die Kommandozentrale der NAUTILUS zu laufen.
Unser Wiedersehen war so herzlich, wie man es nach allem, was in der Zwischenzeit geschehen war, erwarten konnte. Howard schloß mich schlichtweg in die Arme und preßte mich so heftig an sich wie eine Mutter, die ihren totgeglaubten Sohn wiedergefunden hat. Einen Moment lang ließ ich seine stürmischen Freudenbezeugungen über mich ergehen, dann löste ich mich aus seiner Umarmung, trat einen Schritt zurück und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Howard sah nicht gut aus. Tiefe graue Schatten lagen auf seinen Wangen, und seine Augen hatten einen fiebrigen Glanz, der wohl nur zum Teil auf seine Erregung zurückzuführen war. Seine Hände zitterten ganz leicht, als er einen Zigarillo aus der Rocktasche nahm und anzündete.
»Wie schön, dich wiederzusehen, Junge«, sagte er - zum wahrscheinlich dreißigsten Male. »Ich hatte die Hoffnung bereits aufgegeben.«
»Du weißt doch: Unkraut vergeht nicht«, antwortete ich. Howard lächelte, aber der ernste Ausdruck in seinen Augen nahm eher zu. Er setzte sich, schnippte die Zigarrenasche auf den Boden und wies mich mit einer einladenden Geste an, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Ich sah zur Tür zurück, ehe ich gehorchte. Das halbrunde Stahlschott hatte sich hinter mir wieder geschlossen.
»Ich habe darum gebeten, daß man uns für einige Minuten in Ruhe läßt«, sagte Howard, der meinen Blick richtig deutete. »Wir haben eine Menge zu bereden. Und nicht sehr viel Zeit. Was ist passiert?«
Ich zögerte einen Moment, zu antworten. Mir brannten selbst tausend Fragen auf der Zunge, angefangen mit der, wieso die NAUTILUS plötzlich hier aufgetaucht war - nicht nur Tausende von Meilen von der schottischen Küste entfernt, sondern noch dazu zwei Jahre in der Vergangenheit. Aber ich kannte Howard auch gut genug, um zu wissen, daß ich ohnehin keine Antwort bekommen würde, ehe nicht sein Wissensdurst gestillt war. So fügte ich mich denn und erzählte ihm alles, was seit unserer letzten Begegnung geschehen war, über die verzweifelte Odyssee der Dagon und mein Zusammentreffen mit dem geheimnisvollen Feind der GROSSEN ALTEN, bis hin zu dem, was sich auf Krakatau selbst zugetragen hatte. Howard sagte während der ganzen Zeit kein Wort, aber er hatte seine Physiognomie nicht gut genug unter Kontrolle, daß ich nicht darin hätte lesen können. Nicht sehr viel von dem, was er hörte, schien ihn zu überraschen.
Auch als ich zu Ende berichtet hatte, schwieg Howard weiter, und schließlich hielt ich es nicht mehr aus und platzte heraus: »Was hat das alles zu bedeuten, Howard? Wie kommt die NAUTILUS hierher? Woher wußtet ihr überhaupt, wo ich bin, und was hat Nemo damit gemeint: Diese Insel wird vom Angesicht des Planeten getilgt werden?«
Howard lächelte, wurde aber sofort wieder ernst. »Mein alter Freund Nemo befleißigt sich manchmal einer etwas blumenreichen Ausdrucksweise«, sagte er. »Aber er hat recht, Robert. Sagt dir der Name Krakatau wirklich so wenig? Denk zurück - zwei Jahre ungefähr.«
Ich überlegte einen Moment, schüttelte aber dann den Kopf. Vor zwei Jahren war ich gerade in London eingetroffen und hatte versucht, mich in die Geheimnisse einzuarbeiten, die mir mein Vater zusammen mit seinem Riesenvermögen hinterlassen hatte. Ich hatte während dieser Zeit kaum etwas von dem mitbekommen, was rings um mich herum auf der Welt vorging. »Zwei Jahre in der Vergangenheit, das ist jetzt«, sagte Howard. »Der Vulkan wird ausbrechen, in einer der größten Eruptionen seit Menschengedenken.«
»Und es gibt... keine Möglichkeit, es... es zu verhindern?« Howard schüttelte traurig den Kopf. »Wie willst du etwas verhindern, was schon geschehen ist, Robert?« fragte er. »Wir können nur versuchen, so viele Menschen wie möglich von der Insel fortzuschaffen, ehe die Katastrophe hereinbricht.«
»Deshalb hat Nemo die Zuidermaar einfach entern lassen«, sagte ich.
Howard nickte. »Ja. Für lange Erklärungen bleibt keine Zeit. Wir haben achtundvierzig Stunden, um Krakatau zu evakuieren, von hier zu verschwinden und so weit aufs Meer hinauszufahren, wie wir nur können. Dieses holländische Kriegsschiff hat sogar noch weniger Zeit. Es muß einen Hafen erreichen, ehe die Flutwelle kommt.« Er seufzte, stand auf und kam mit einer zerknitterten Seekarte wieder. Ich sah, daß er einige Punkte darauf mit roten Strichen markiert hatte.
»Einen Vorteil haben wir«, sagte er, während er die Karte auseinanderfaltete und mit dem Handrücken glattstrich. »Wenn auch einen kleinen. Da wir wissen, wo und wie schlimm die Springflut zugeschlagen hat, können wir dem Kapitän des Schiffes ziemlich genau sagen, wohin er segeln muß, um zu überleben.«
»Und... alles andere?« fragte ich stockend. »Dagon und Shannon und...«
»Dazu bleibt keine Zeit«, unterbrach mich Howard leise, aber sehr ernst. »Auf dieser Insel leben an die tausend Menschen. Wir werden kaum alle retten können, aber jeder Moment ist kostbar. Dein fischgesichtiger Freund wird zusammen mit dem Vulkan in die Luft fliegen.«
»Und Shannon auch«, fügte ich düster hinzu.
Howard wich meinem Blick aus. »Ich fürchte es«, murmelte er. Er schwieg einen Moment, sah mich dann doch an und fragte: »Du magst ihn sehr, wie?«
»Ich... ich weiß nicht«, antwortete ich ausweichend. »Bis vor ein paar Tagen dachte ich, er wäre mein Freund, aber jetzt...« Ich suchte vergeblich nach den passenden Worten. Wie hätte ich die Enttäuschung, ja, das Entsetzen, mit dem mich Shannons so plötzliche Verwandlung erfüllt hatte, auch ausdrücken sollen?
»Wir können nichts für ihn tun«, sagte Howard leise. »Nicht, wenn er wirklich zu Dagon gegangen ist.«
»Ich könnte versuchen, ihn herauszuholen«, sagte ich.
Howard lachte. Es klang nicht besonders amüsiert. »Nach allem, was du mir erzählt hast? Du bist verrückt, Junge.«
»Aber er ist wenigstens kein Verräter!« sagte eine Stimme hinter mir.
Howard fuhr auf und preßte wütend die Lippen zusammen, und auch ich drehte mich herum - und unterdrückte im letzten Augenblick einen erschrockenen Ausruf. Das Schott hatte sich lautlos wieder geöffnet, und Nemo, Rowlf und Kapitän Harmfeld waren hereingekommen, begleitet von zwei Matrosen der NAUTILUS, die wie zufällig rechts und links von Harmfeld standen. Und einem jungen, dunkelhaarigen Mädchen, das Howard und mich abwechselnd mit zornsprühenden Blicken anstarrte.
»Jennifer!« entfuhr es mir. »Wie... wie kommst du hierher?« Ich sprang auf und eilte ihr entgegen, aber Jennifer ignorierte mich und ging mit schnellen Schritten auf Howard zu.
»Halten Sie so Ihr Wort, Lovecraft?« fauchte sie. »Wir hatten etwas anderes vereinbart.«
»Unsinn«, verteidigte sich Howard. »Wir haben versichert, daß wir Sie hierherbringen, mehr nicht. Und selbst wenn - es stehen Menschenleben auf dem Spiel, was gilt da ein gegebenes Wort?«
»Was hat das alles zu bedeuten?« fragte ich verstört.
»Das fragst du besser deinen Freund Howard«, schnappte Jennifer wütend. »Wir hatten eine Abmachung.«
»Eine Abmachung?« Ich sah Howard an.
»Das stimmt«, gestand er. »Wir... haben versprochen, sie zu Dagon zu bringen. Als Gegenleistung hat sie uns verraten, wo du bist. Und wann«, fügte er mit sonderbarer Betonung hinzu.