»Und Sie betrügen mich«, sagte Jennifer böse. »Ich habe mein Wort gehalten und Sie zu Craven geführt. Jetzt bringen Sie mich zu Dagon.«
»Kindchen«, begann Howard, »das ist...«
Jennifer fuhr ihm mit einer wütenden Bewegung ins Wort. »Das ist, was wir vereinbart haben, Lovecraft. Ich habe mein Wort gehalten, jetzt halten Sie das Ihre. Wenn nicht...« Sie sprach nicht weiter, aber vielleicht war es gerade das, war ihren Worten ein solches Gewicht verlieh. Howard preßte die Lippen aufeinander, aber ich spürte, daß sein Zorn nicht ganz echt war, und daß sich eine Furcht dahinter verbarg, die ich nicht verstand.
Ehe er antworten und damit alles nur noch schlimmer machen konnte, trat ich zwischen ihn und das schwarzhaarige Mädchen, um so wenigstens den Blickkontakt zwischen den beiden ungleichen Kampfhähnen zu unterbrechen.
»Jenny«, sagte ich, »warum erzählst du mir nicht einfach, was geschehen ist. Vielleicht finden wir eine Lösung.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, antwortete sie wütend. »Ich hatte eine Abmachung mit Lovecraft und Nemo. Ich habe ihnen gesagt, wo Sie zu finden sind, und dafür haben sie sich verpflichtet, mich zu Dagon zu bringen.«
»Warum?« fragte ich. »Was versprichst du dir davon?«
»Das geht dich nichts an«, antwortete sie wütend.
»Ich denke doch«, widersprach ich. »Mir ist auch daran gelegen, Dagon zu finden, ehe hier alles in die Luft fliegt, aber wenn ich dir helfen soll, dann muß ich wissen, auf welcher Seite du stehst, Jenny.«
»Siehst du das wirklich nicht, Robert?« fragte Howard leise. »Schau sie dir doch an. Sie liebt ihn. Sie liebt dieses Ungeheuer!«
Seine Stimme troff dabei so von Verachtung, daß Jenny wie von der Tarantel gestochen herumfuhr und es für einen Moment so aussah, als wolle sie sich auf ihn stürzen. »Wollen Sie es bestreiten?« fragte Howard kühl. Ich drehte mich wütend herum. »Howard, zum Teufel, was soll das?« schnappte ich.
Ich bekam keine Antwort, aber das zornige Funkeln in Howards Augen verstärkte sich weiter. Einen Moment lang erwiderte ich seinen Blick, dann drehte ich mich wieder zu Jennifer um und versuchte zu lächeln. Ganz gelang es mir nicht.
»Ist es wahr?« fragte ich. »Liebst du Dagon immer noch? Obwohl er dich und die anderen einfach im Stich gelassen hat?«
Das Mädchen schürzte wütend die Lippen. »Und wenn?« fragte sie.
»Wenn«, antwortete ich, sehr leise und in aufrichtig bedauerndem Ton, »kann ich dir nicht helfen, Jenny. Das mußt du einsehen. Dagon ist unser Feind, und nicht nur unserer.«
»Ach?« fragte Jennifer. »Ist er das?«
Ich stutzte. Ihre Worte waren genau in dem Ton vorgebracht, in dem ein störrisches Kind reden mochte, das ausprobiert, wie weit es gehen kann. Und trotzdem ließ mich etwas darin aufhorchen.
»Wie meinst du das?« fragte ich.
In Jennifers Augen blitzte es. »Warum kommst du nicht mit mir und fragst ihn selbst?« sagte sie. Ich wollte antworten, aber ich konnte es nicht. Jennifer haßte mich, das war mir klar, im selben Moment, in dem ich in ihre Augen sah. Sie haßte Howard, Nemo, mich - überhaupt jeden hier, denn in den letzten Augenblicken hatte sie vermutlich die größte Enttäuschung ihres Lebens erlebt. Ich wußte noch immer nicht genau, was Howard und sie vereinbart hatten - aber es schien, als hätte sie ihren Teil dieses sonderbaren Handels eingehalten. Wenn Howard jetzt die Vereinbarung brach, dann mußte ihr dies wie Betrug vorkommen. Genaugenommen war es das wohl auch. Und genaugenommen konnte ich es nicht gutheißen, ganz gleich, aus welchen Gründen heraus Howard und Nemo handeln mochten. Auch ein Betrug an einem Feind bleibt ein Betrug, egal, wie man es dreht und wendet.
Aber da war noch mehr. Über diese Tatsache hinaus konnte ich Jennifer nur zu gut verstehen. Ich wußte aus eigener schmerzlicher Erfahrung, wie eng Liebe und Leid miteinander verbunden sind. Auch ich hatte eine Enttäuschung erlebt, die ich selbst jetzt, nach mehr als zwei Jahren, noch nicht vollends verwunden hatte.
Schließlich senkte ich den Blick, starrte einen Moment zu Boden und wandte mich dann wieder an Howard. »Du bleibst dabei?«
»Die NAUTILUS wird sich keinen Fuß von der Stelle rühren«, sagte Howard hart - und in einem Ton, der mich davon abhielt, noch einmal zu fragen.
»Gut«, antwortete ich. »Dann werde ich zusammen mit Jenny gehen.«
Howard keuchte. »Du willst...«
»Morgen früh«, fuhr ich fort, mit ganz leicht erhobener Stimme. »Nur wir zwei. Alles, was ich brauche, sind frische Kleider und ein Gewehr. Und vierundzwanzig Stunden Zeit. Habe ich die?«
Howard antwortete nicht sofort, sondern tauschte einen fragenden Blick mit Nemo. Der Kapitän der NAUTILUS nickte beinahe unmerklich.
»Gut«, sagte Howard. Seine Stimme klang seltsam. Zorn war darin, aber auch noch etwas anderes, das ich nicht zu benennen vermochte. »Vierundzwanzig Stunden. Keine Minute länger, Robert. Übermorgen bei Sonnenaufgang stechen wir in See, ob du an Bord bist oder nicht. Wenn wir bleiben, ist es unser aller Tod.«
Über dem Strand lag das Schweigen des Todes. Die Luft war still, beinahe unbewegt, und selbst das monotone Rauschen und Wispern der Brandung klang wie von weit, weit her, obwohl die Wellen nur wenige Handbreiten hinter den Füßen der Männer gegen den Strand leckten.
Während der zweiten Hälfte der Nacht waren das Schreien und Schießen verklungen und die Brände einer nach dem anderen erloschen, und jetzt lagen die Häuser dunkel und bar jeden Lebens da; eine halbhohe, im grauen Licht der Dämmerung wie eine gezackte Zinnenmauer wirkende Wand, die sich vor dem größeren Schatten des Berges abhob. Brandgeruch hing in der Luft, und hier und da kräuselte sich noch Rauch in den Himmel.
Eine Mauer des Schweigens. Es hätte der grünweißen, mit kleinen glitzernden Klümpchen durchsetzten Schleimspur auf dem Strand nicht einmal bedurft, um mir zu sagen, daß in diesem Ort nichts Lebendes mehr war.
»Warten Sie«, sagte Harmfeld, als ich weitergehen wollte, um einer Welle auszuweichen, die schäumend herangerollt kam.
»Irgend etwas stimmt hier nicht.«
»Ach?« erwiderte ich spitz. »Wie kommen Sie darauf?« Harmfeld runzelte die Stirn, schenkte mir einen bösen Blick und sah aus zusammengekniffenen Augen zurück zum Meer, wo sich die Zuidermaar wie ein gewaltiger schwimmender Berg erhob. Das Schiff war näher an die Küste herangekommen, so nahe, wie es einem Schiff dieser nicht unbeträchtlichen Größe eben möglich war, bevor es Gefahr lief, plötzlich auf dem seichten Strand aufzusetzen. Trotzdem war es noch eine gute halbe Meile vom Ufer entfernt. Selbst die NAUTILUS, deren Turm wie eine stählerne Klippe unweit des Schiffes aus dem Meer ragte, erschien mir unendlich weit entfernt.
Das Bild erinnerte mich an Howard und Rowlf, die beiden einzigen Freunde, die ich besaß, und die auf diesem Schiff zurückgeblieben waren. Es tat weh. Ich hatte bis vor wenigen Stunden noch nicht einmal zu hoffen gewagt, sie überhaupt wiederzusehen. Und dann war dieses Wiedersehen ganz, ganz anders verlaufen, als ich mir erträumt hatte.
Wie kam es nur, daß Howard und ich, die beide für den anderen eine große Hochachtung und ebenso tiefe Zuneigung empfanden, sich fast ununterbrochen stritten? Was war der Grund - waren wir zu verschieden oder zu ähnlich? Oder war es vielleicht so, daß man nicht tagtäglich mit dem Bösen umgehen konnte, ohne selbst so zu werden? Vielleicht war es wirklich so, wie Howard einmal - nicht ganz im Scherz - gemeint hatte: Es ist, als würdest du mit den Händen im Dreck wühlen, Junge. Du kannst ihn fortwerfen, so weit du willst. Etwas bleibt immer an dir haften.
Ich verscheuchte den Gedanken, trat - Harmfelds Befehl mißachtend - zwei Schritte weiter auf den Strand hinauf und sah schadenfroh zu, wie Harmfeld und seine Leute nasse Füße bekamen. Auch Jennifer hatte sich ein Stück weit den Strand hinauf bewegt, obwohl sie gewiß nicht wasserscheu war. Ein flüchtiges Lächeln verzog ihre Lippen, als sie Harmfelds Mißgeschick bemerkte. Der Holländer fluchte, trat an meine Seite und blickte wieder zum Ort hinüber.